3. Geschichtliche Entwicklung der Lyrik
Aus dem, was ich teils über den allgemeinen Charakter, teils über die näheren Bestimmungen angedeutet habe, welche in Rücksicht auf den Dichter, das lyrische Kunstwerk und die Arten der Lyrik in Betracht kommen, erhellt schon zur Genüge, daß besonders in diesem Gebiete der Poesie eine konkrete Behandlung nur in zugleich historischer Weise möglich ist. Denn das Allgemeine, das für sich kann festgestellt werden, bleibt nicht nur seinem Umfange nach beschränkt, sondern auch in seinem Werte abstrakt, weil fast in keiner anderen Kunst in gleichem Maße die Besonderheit der Zeit und Nationalität sowie die Einzelheit des subjektiven Genius das Bestimmende für den Inhalt und die Form der Kunstwerke abgibt. Je mehr nun aber hieraus für uns die Forderung erwächst, eine solche geschichtliche Darstellung nicht zu umgehen, um so mehr muß ich mich eben um dieser Mannigfaltigkeit willen, zu welcher die lyrische Poesie auseinandergeht, ausschließlich auf die kurze Übersicht über dasjenige beschränken, was mir in diesem Kreise zur Kenntnis gekommen ist und woran ich einen regeren Anteil habe nehmen können.
Den Grund für die allgemeine Gruppierung der vielfachen nationalen und individuellen lyrischen Produkte haben wir wie bei der epischen Poesie aus den durchgreifenden Formen zu entnehmen, zu denen sich das künstlerische Hervorbringen überhaupt entfaltet und welche wir als die symbolische, klassische und romantische Kunst haben kennenlernen. Als Haupteinteilung müssen wir deshalb auch in diesem Gebiete dem Stufengange folgen, der uns von der orientalischen zu der Lyrik der Griechen und Römer und von dieser zu den slawischen, romanischen und germanischen Völkern herüberführt.
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