b. Die Form des lyrischen Kunstwerks
Was nun zweitens im allgemeinen die Form betrifft, durch welche solch ein Inhalt zum lyrischen Kunstwerk wird, so bildet hier das Individuum in seinem inneren Vorstellen und Empfinden den Mittelpunkt. Das Ganze nimmt deshalb vom Herzen und Gemüt und näher von der besonderen Stimmung und Situation des Dichters seinen Anfang, so daß der Gehalt und Zusammenhang der besonderen Seiten, zu welchen der Inhalt sich entwickelt, nicht objektiv von sich selbst als substantieller Inhalt oder von seiner äußeren Erscheinung als in sich beschlossene individuelle Begebenheit, sondern vom Subjekte getragen bleibt. Deshalb muß nun aber das Individuum in sich selber poetisch, phantasiereich, empfindungsvoll oder großartig und tief in Betrachtungen und Gedanken und vor allem selbständig in sich, als eine für sich abgeschlossene innere Welt erscheinen, von welcher die Abhängigkeit und bloße Willkür der Prosa abgestreift ist. - Das lyrische Gedicht erhält dadurch eine vom Epos ganz unterschiedene Einheit, die Innerlichkeit nämlich der Stimmung oder Reflexion, die sich in sich selber ergeht, sich in der Außenwelt widerspiegelt, sich schildert, beschreibt oder sich sonst mit irgendeinem Gegenstande beschäftigt und in diesem subjektiven Interesse das Recht behält, beinahe wo es will anzufangen und abzubrechen. Horaz z. B. ist häufig da schon zu Ende, wo man der gewöhnlichen Vorstellungsweise und Art der Äußerung gemäß meinen sollte, die Sache müßte nun erst recht ihren Anfang nehmen, d. h. er beschreibt z. B. nur seine Empfindungen, Befehle, Anstalten zu einem Feste, ohne daß wir von dem weiteren Hergang und Gelingen desselben irgend etwas erfahren. Ebenso gibt auch die Art der Stimmung, der individuelle Zustand des Gemüts, der Grad der Leidenschaft, die Heftigkeit, das Sprudeln und springende Herüber und Hinüber oder die Ruhe der Seele und Stille der sich langsam fortbewegenden Betrachtung die allerverschiedenartigsten Normen für den inneren Fortgang und Zusammenhang ab. Im allgemeinen läßt sich deshalb in Rücksicht auf alle diese Punkte, der vielfach bestimmbaren Wandelbarkeit des Inneren wegen, nur wenig Festes und Durchgreifendes aufstellen. Als nähere Unterschiede will ich nur folgende Seiten herausheben.
α) Wie wir im Epos mehrere Arten fanden, welche sich gegen den lyrischen Ton des Ausdrucks hinneigten, so kann nun auch die Lyrik zu ihrem Gegenstande und zu ihrer Form eine dem Gehalt und der äußeren Erscheinung nach epische Begebenheit nehmen und insofern an das Epische heranstreifen. Heldenlieder, Romanzen, Balladen z. B. gehören hierher. Die Form für das Ganze ist in diesen Arten einerseits erzählend, indem der Hergang und Verlauf einer Situation und Begebenheit, einer Wendung im Schicksal der Nation usw. berichtet wird. Andererseits aber bleibt der Grundton ganz lyrisch; denn nicht die subjektivitätslose Schilderung und Ausmalung des realen Geschehens, sondern umgekehrt die Auffassungsweise und Empfindung des Subjekts, die freudige oder klagende, mutige oder gedrückte Stimmung, die durch das Ganze hindurchklingt, ist die Hauptsache, und ebenso gehört auch die Wirkung, zu welcher solch ein Werk gedichtet wird, ganz der lyrischen Sphäre an. Was nämlich der Dichter im Hörer hervorzubringen beabsichtigt, ist die gleiche Gemütsstimmung, in die ihn das erzählte Begebnis versetzt und welche er deshalb ganz in die Darstellung hineingelegt hat. Er drückt seine Schwermut, Trauer, Heiterkeit, seine Glut des Patriotismus usf. in einem analogen Begebnis in der Weise aus, daß nicht der Vorfall selbst, sondern die sich darin widerspiegelnde Gemütslage den Mittelpunkt ausmacht, weshalb er denn auch vorzugsweise nur diejenigen Züge heraushebt und empfindungsvoll schildert, welche mit seiner inneren Bewegung zusammenklingen und, insofern sie dieselbe am lebendigsten aussprechen, das gleiche Gefühl auch im Hörer anzuregen am meisten befähigt sind. So ist der Inhalt zwar episch, die Behandlung aber lyrisch.
Was das Nähere angeht, so fallen hierherein:
αα) Erstens das Epigramm, wenn es nämlich nicht als Aufschrift ganz kurz und objektiv nur aussagt, was die Sache sei, sondern wenn sich an diesen Ausspruch irgendeine Empfindung knüpft und der Inhalt dadurch aus seiner sachlichen Realität heraus ins Innere hineinverlegt ist. Dann nämlich gibt sich das Subjekt nicht mehr gegen den Gegenstand auf, sondern macht umgekehrt gerade sich in demselben, seine Wünsche in betreff auf ihn, seine subjektiven Scherze, scharfsinnigen Verknüpfungen und unvermuteten Einfälle geltend. Schon die Griechische Anthologie enthält viele solcher witzigen Epigramme, welche den epischen Ton nicht mehr festhalten; und auch in neuerer Zeit finden wir bei den Franzosen in den pikanten Couplets, wie sie z. B. in ihren Vaudevilles so häufig vorkommen, und bei uns Deutschen in den Sinngedichten, Xenien usf. etwas Ähnliches, das hierher zu rechnen ist. Auch Grabschriften selbst können in Rücksicht auf die vorwaltende Empfindung diesen lyrischen Charakter annehmen.
ββ) In derselben Weise zweitens breitet sich die Lyrik auch zur schildernden Erzählung aus. Als nächste und einfachste Form will ich in diesem Kreise nur die Romanze nennen, insofern sie die verschiedenen Szenen einer Begebenheit vereinzelt und dann jede für sich in vollem Mitgefühle der Schilderung rasch in gedrungenen Hauptzügen fortgehend darstellt. Diese feste und bestimmte Auffassung des eigentlich Charakteristischen einer Situation und scharfe Heraushebung bei der vollen subjektiven Teilnahme tritt besonders bei den Spaniern in nobler Weise hervor und verleiht ihren erzählenden Romanzen eine große Wirkung. Es ist über diesen lyrischen Gemälden eine gewisse Helligkeit verbreitet, welche mehr der klar sondernden Genauigkeit der Anschauung als der Innigkeit des Gemüts zugehört.
γγ) Die Balladen dagegen umfassen, wenn auch in kleinerem Maßstabe als in der eigentlich epischen Poesie, meist die Totalität eines in sich beschlossenen Begebnisses, dessen Bild sie freilich auch nur in den hervorstechendsten Momenten entwerfen, zugleich aber die Tiefe des Herzens, das sich ganz damit verwebt, und den Gemütston der Klage, Schwermut, Trauer, Freudigkeit usf. voller und doch konzentrierter und inniger hervordringen lassen. Die Engländer besitzen vornehmlich aus der früheren ursprünglichen Epoche ihrer Poesie viele solcher Gedichte; überhaupt liebt die Volkspoesie, dergleichen meist unglückliche Geschichten und Kollisionen im Tone der schauerlichen, die Brust mit Angst beengenden, die Stimme erstickenden Empfindung zu erzählen. Doch auch in neuerer Zeit haben sich bei uns Bürger und dann vor allem Goethe und Schiller eine Meisterschaft in diesem Felde erworben: Bürger durch seine trauliche Naivität; Goethe bei aller anschaulichen Klarheit durch die innigere Seele, welche sich durch das Ganze lyrisch hindurchzieht, und Schiller wieder durch die großartige Erhebung und Empfindung für den Grundgedanken, den er in Form einer Begebenheit dennoch durchweg lyrisch aussprechen will, um das Herz des Zuhörers dadurch in eine ebenso lyrische Bewegung des Gemüts und der Betrachtung zu versetzen.
β) Explizierter nun zweitens tritt schon das subjektive Element der lyrischen Poesie dann heraus, wenn irgendein Vorfall als wirkliche Situation zur bloßen Veranlassung für den Dichter wird, sich darin oder darüber zu äußern. Dies ist in dem sogenannten Gelegenheitsgedichte der Fall. >>>
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