|
<<<Die Form des lyrischen Kunstwerks [Gelegenheitsgedichte]
β) Explizierter nun zweitens tritt schon das subjektive Element der lyrischen Poesie dann heraus, wenn irgendein Vorfall als wirkliche Situation zur bloßen Veranlassung für den Dichter wird, sich darin oder darüber zu äußern. Dies ist in dem sogenannten Gelegenheitsgedichte der Fall. So sangen z. B. bereits Kallinos und Tyrtaios ihre Kriegselegien für wirkliche Zustände, von denen sie ihren Ausgangspunkt nahmen und für die sie begeistern wollten, obschon ihre subjektive Individualität, ihr eigenes Herz und Gemüt noch wenig zum Vorschein kommt. Auch die Pindarischen Preisgesänge haben in bestimmten Wettkämpfern und Siegern und in den besonderen Verhältnissen derselben ihren näheren Anlaß gefunden; und mehr noch sieht man vielen Horazischen Oden eine spezielle Veranlassung, ja die Intention und den Gedanken an: ich will doch auch als dieser gebildete und berühmte Mann ein Gedicht darauf machen. Am meisten jedoch hat Goethe in neuerer Zeit eine Vorliebe für diese Gattung gehabt, weil ihm in der Tat jeder Lebensvorfall sogleich zum Gedicht wurde.
αα) Soll nun aber das lyrische Kunstwerk nicht in Abhängigkeit von der äußeren Gelegenheit und den Zwecken geraten, welche in derselben liegen, sondern als ein selbständiges Ganzes für sich dastehen, so gehört dazu wesentlich, daß der Dichter die Veranlassung auch nur als Gelegenheit benutze, um sich selbst, seine Stimmung, Freudigkeit, Wehmut oder Denkweise und Lebensansicht überhaupt auszusprechen. Die vornehmlichste Bedingung für die lyrische Subjektivität besteht deshalb darin, den realen Inhalt ganz in sich hineinzunehmen und zu dem ihrigen zu machen. Denn der eigentliche lyrische Dichter lebt in sich, faßt die Verhältnisse nach seiner poetischen Individualität auf und gibt nun, wie mannigfaltig er auch sein Inneres mit der vorhandenen Welt und ihren Zuständen, Verwicklungen und Schicksalen verschmilzt, dennoch in der Darstellung dieses Stoffs nur die eigene selbständige Lebendigkeit seiner Empfindungen und Betrachtungen kund. Wenn z. B. Pindar eingeladen wurde, einen Sieger in den Wettspielen zu besingen, oder es aus eigenem Antriebe tat, so bemächtigte er sich doch dermaßen seines Gegenstandes, daß sein Werk nicht etwa ein Gedicht auf den Sieger wurde, sondern ein Erguß, den er aus sich selbst heraussang.
ββ) Was nun die nähere Darstellungsart eines solchen Gelegenheitsgedichtes angeht, so kann dieselbe allerdings einerseits ihren bestimmteren Stoff und Charakter sowie die innere Organisation des Kunstwerks aus der realen Wirklichkeit des als Inhalt ergriffenen Vorfalls oder Subjekts entnehmen. Denn gerade dieser Inhalt ist es ja, von dem sich das dichterische Gemüt bewegt zeigen will. Als deutlichstes, wenn auch extremes Beispiel brauche ich nur an Schillers "Lied von der Glocke" zu erinnern, welches die äußeren Stufenfolgen im Geschäft des Glockengießens als die wesentlichen Haltpunkte für den Entwicklungsgang des ganzen Gedichts hinstellt und sich dann hieran erst die entsprechenden Ergüsse der Empfindung sowie die verschiedenartigen Lebensbetrachtungen und sonstigen Schilderungen menschlicher Zustände schließen läßt. In einer anderen Art entlehnt auch Pindar aus dem Geburtsorte des Siegers, aus den Taten des Stamms, dem derselbe angehört, oder aus anderweitigen Lebensverhältnissen die nähere Gelegenheit, gerade diese und keine anderen Götter zu preisen, nur dieser Taten und Schicksale Erwähnung zu tun, nur diese bestimmten Betrachtungen anzustellen, diese Weisheitssprüche einzuflechten usf. Andererseits aber ist der lyrische Dichter auch hierin wieder vollständig frei, indem nicht die äußere Gelegenheit als solche, sondern er selbst mit seinem Innern sich zum Gegenstande wird und es deshalb von der besonderen subjektiven Ansicht und poetischen Gemütsstimmung allein abhängig macht, welche Seiten des Gegenstandes und in welcher Folge und Verwebung sie zur Darstellung gelangen sollen. Der Grad nun, in welchem die objektive Gelegenheit mit ihrem sachlichen Inhalt oder die eigene Subjektivität des Dichters überwiegen oder beide Seiten sich durchdringen dürfen, läßt sich nicht a priori nach einem festen Maßstabe angeben.
γγ) Die eigentlich lyrische Einheit aber gibt nicht der Anlaß und dessen Realität, sondern die subjektive innere Bewegung und Auffassungsweise. Denn die einzelne Stimmung oder allgemeine Betrachtung, zu welcher die Gelegenheit poetisch erregt, bildet den Mittelpunkt, von dem aus nicht nur die Färbung des Ganzen, sondern auch der Umkreis der besonderen Seiten, die sich entfalten können, die Art der Ausführung und Verknüpfung und somit der Halt und Zusammenhang des Gedichts als Kunstwerkes bestimmt wird. So hat Pindar z. B. an den genannten objektiven Lebensverhältnissen seiner Sieger, die er besingt, einen realen Kern für die Gliederung und Entfaltung; bei den einzelnen Gedichten aber sind es immer andere Gesichtspunkte, eine andere Stimmung - der Warnung, des Trostes, der Erhebung z. B. -, die er hindurchwalten läßt und welche, obschon sie allein dem Dichter als poetischem Subjekt angehören, ihm dennoch gerade den Umfang dessen, was er von jenen Verhältnissen berühren, ausführen oder übergehen will, sowie die Art der Beleuchtung und Verbindung eingeben, deren er sich zu der beabsichtigten lyrischen Wirkung bedienen muß.
γ) Drittens jedoch braucht der echt lyrische Dichter nicht von äußeren Begebenheiten auszugehen, die er empfindungsreich erzählt, oder von sonstigen realen Umständen und Veranlassungen, die ihm zum Anstoß seines Ergusses werden, sondern er ist für sich eine subjektiv abgeschlossene Welt, so daß er die Anregung wie den Inhalt in sich selber suchen und deshalb bei den inneren Situationen, Zuständen, Begegnissen und Leidenschaften seines eigenen Herzens und Geistes stehenbleiben kann. Hier wird sich der Mensch in seiner subjektiven Innerlichkeit selber zum Kunstwerk, während dem epischen Dichter der fremde Heros und dessen Taten und Ereignisse zum Inhalt dienen.
αα) Doch auch in diesem Felde kann noch ein erzählendes Element eintreten, wie z. B. bei vielen der sogenannten Anakreontischen Lieder, welche heitere Bildchen von Vorfällen mit Eros usf. in lieblicher Rundung aufstellen. Solches Begegnis muß dann aber mehr nur gleichsam die Erklärung einer inneren Situation des Gemütes sein. So benutzt auch Horaz wieder auf andere Weise in seinem "Integer vitae" den Vorfall, daß ihm ein Wolf begegnet, nicht so, daß wir das Ganze dürften ein Gelegenheitsgedicht nennen, sondern als Beleg des Satzes, mit dem er beginnt, und der Unstörbarkeit der Liebesempfindung, mit der er endet.
ββ) Überhaupt braucht die Situation, in welcher der Dichter sich darstellt, sich nicht bloß auf das Innere als solches zu beschränken, sondern darf sich als konkrete und damit auch äußerliche Totalität erweisen, indem der Dichter sich in ebenso subjektivem als realem Dasein gibt. In den eben angeführten Anakreontischen Liedern z. B. schildert sich der Dichter unter Rosen, schönen Mädchen und Knaben, bei Wein und Tanz in dem heiteren Genuß, ohne Verlangen und Sehnsucht, ohne Pflicht und Verabsäumung höherer Zwecke, die hier gar nicht vorhanden sind, wie einen Heros, der unbefangen und frei und daher ohne Beschränktheit oder Mangel nur dieses eine ist, was er ist: ein Mensch seiner eigenen Art als subjektives Kunstwerk.
Auch in den Liebesliedern des Hafis sieht man die ganze lebendige Individualität des Dichters, wechselnd an Inhalt, Stellung, Ausdruck, so daß es beinah zum Humor fortgeht. Doch hat er kein besonderes Thema bei seinen Gedichten, kein objektives Bild, keinen Gott, keine Mythologie - ja, wenn man diese freien Ergüsse liest, fühlt man, daß die Orientalen überhaupt keine Gemälde und bildende Kunst haben konnten; er geht von einem Gegenstande zum anderen, er läßt sich überall herumgehen, aber es ist eine Szene, worin immer der ganze Mann mit seinem Wein, Schenken, Mädchen, Hof usf. in schöner Offenheit, ohne Begierde und Selbstsucht in reinem Genuß Aug in Auge, Seele in Seele vor uns gebracht ist. - Proben dieser Art der Darstellung einer nicht nur inneren, sondern auch äußeren Situation lassen sich aufs mannigfaltigste angeben. Führt sich jedoch der Dichter so in seinen subjektiven Zuständen aus, so sind wir nicht geneigt, etwa die partikulären Einbildungen, Liebschaften, häuslichen Angelegenheiten, Vetter- und Basengeschichten kennenzulernen, wie dies selbst bei Klopstocks Cidli und Fanny*) der Fall ist; sondern wir wollen etwas Allgemeinmenschliches, um es poetisch mitempfinden zu können, vor Augen haben. Von dieser Seite her kann deshalb die Lyrik leicht zu der falschen Prätention fortgehen, daß an und für sich schon das Subjektive und Partikuläre von Interesse sein müsse. Dagegen kann man viele der Goetheschen Lieder, obschon Goethe sie nicht unter dieser Rubrik aufgeführt hat, gesellige Lieder nennen. In Gesellschaft nämlich gibt man nicht sich selbst; im Gegenteil, man stellt seine Partikularität zurück und unterhält durch ein Drittes, eine Geschichte, Anekdote, durch Züge von anderen, die man dann in besonderer Laune auffaßt und dem eigenen Tone gemäß durchführt. In diesem Falle ist der Dichter er selbst und auch nicht; er gibt nicht sich, sondern etwas zum besten und ist gleichsam ein Schauspieler, der unendlich viele Rollen durchspielt, jetzt hier, dann dort verweilt, hier eine Szene, dort eine Gruppierung einen Augenblick festhält, doch, was er auch darstellen mag, immer zugleich sein eigenes künstlerisches Inneres, das Selbstempfundene und Durchlebte lebendig darein verwebt.
γγ) Ist nun aber die innere Subjektivität der eigentliche Quell der Lyrik, so muß ihr auch das Recht bleiben, sich auf den Ausdruck rein innerlicher Stimmungen, Reflexionen usf. zu beschränken, ohne sich zu einer konkreten, auch in ihrer Äußerlichkeit dargestellten Situation auseinanderzulegen. In dieser Rücksicht erweist sich selbst das ganz leere Lirum-larum, das Singen und Trällern rein um des Singens willen als echt lyrische Befriedigung des Gemüts, dem die Worte mehr oder weniger bloße gleichgültige Vehikel für die Äußerung der Heiterkeiten und Schmerzen werden, doch als Ersatz nun auch sogleich die Hilfe der Musik herbeirufen. Besonders Volkslieder gehen häufig über diese Ausdrucksweise nicht hinaus. Auch in Goetheschen Liedern, bei denen es dann aber schon zu einem bestimmteren, reichhaltigeren Ausdruck kommt, ist es oft nur irgendein einzelner momentaner Scherz, der Ton einer flüchtigen Stimmung, aus dem der Dichter nicht herausgeht und daraus ein Liedchen macht, einen Augenblick zu pfeifen. In anderen behandelt er dagegen ähnliche Stimmungen weitläufiger, selbst methodisch, wie z. B. in dem Liede "Ich hab mein Sach auf nichts gestellt", wo erst Geld und Gut, dann die Weiber, Reisen, Ruhm und Ehre und endlich Kampf und Krieg als vergänglich erscheinen und die freie sorglose Heiterkeit allein der immer wiederkehrende Refrain bleibt. - Umgekehrt aber kann sich auf diesem Standpunkte das subjektive Innere gleichsam zu Gemütssituationen der großartigsten Anschauung und der über alles hinblickenden Ideen erweitern und vertiefen. Von dieser Art ist z. B. ein großer Teil der Schillerschen Gedichte. Das Vernünftige, Große ist Angelegenheit seines Herzens; doch besingt er weder hymnenartig einen religiösen oder substantiellen Gegenstand, noch tritt er bei äußeren Gelegenheiten auf fremden Anstoß als Sänger auf, sondern fängt im Gemüte an, dessen höchste Interessen bei ihm die Ideale des Lebens, der Schönheit, die unvergänglichen Rechte und Gedanken der Menschheit sind.
*) Klopstocks Oden "An Cidli" und "An Fanny"
|