b. Die Lyrik der Griechen und Römer
Auf der zweiten Hauptstufe, in der Lyrik der Griechen und Römer, ist es die klassische Individualität, welche den durchgreifenden Charakterzug ausmacht. Diesem Prinzipe gemäß geht das einzelne Bewußtsein, das sich lyrisch mitteilt, weder in das Äußere und Objektive auf, noch erhebt es sich über sich selbst hinaus zu dem erhabenen Anruf an alle Kreatur: "Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!" oder versenkt sich nach freudiger Entfesselung von allen Banden der Endlichkeit in den Einen, der alles durchdringt und beseelt, sondern das Subjekt schließt sich mit dem Allgemeinen als der Substanz seines eigenen Geistes frei zusammen und bringt sich diese individuelle Einigung innerlich zum poetischen Bewußtsein.
Wie von der orientalischen, so unterscheidet sich die Lyrik der Griechen und Römer auf der anderen Seite ebensosehr von der romantischen. Denn statt sich bis zur Innigkeit partikulärer Stimmungen und Situationen zu vertiefen, arbeitet sie hingegen das Innere zur klarsten Explikation seiner individuellen Leidenschaft, Anschauung und Betrachtungen heraus. Dadurch behält auch sie, selbst als Äußerung des inneren Geistes, soweit dies der Lyrik gestattet ist, den plastischen Typus der klassischen Kunstform bei. Was sie nämlich von Lebensansichten, Weisheitssprüchen usf. darlegt, entbehrt aller durchsichtigen Allgemeinheit ungeachtet dennoch nicht der freien Individualität selbständiger Gesinnung und Auffassungsweise und spricht sich weniger bilderreich und metaphorisch als direkt und eigentlich aus, während auch die subjektive Empfindung teils in allgemeinerer Weise, teils in anschaulicher Gestalt für sich selbst objektiv wird. In derselben Individualität scheiden sich die besonderen Arten in betreff auf Konzeption, Ausdruck, Dialekt und Versmaß voneinander ab, um in abgeschlossener Selbständigkeit den Kulminationspunkt ihrer Ausbildung zu erreichen; und wie das Innere und dessen Vorstellungen ist auch der äußere Vortrag plastischerer Art, indem derselbe in musikalischer Rücksicht weniger die innerliche Seelenmelodie der Empfindung als den sinnlichen Wortklang in dem rhythmischen Maß seiner Bewegung hervorhebt und hierzu endlich noch die Verschlingungen des Tanzes treten läßt.
αa) In ursprünglicher, reichster Entwicklung bildet die griechische Lyrik diesen Kunstcharakter vollendet aus. Zuerst als noch episch gehaltenere Hymnen, welche im Metrum des Epos weniger die innere Begeisterung aussprechen, als in festen objektiven Zügen, wie ich schon oben anführte, ein plastisches Bild der Götter vor die Seele stellen. - Den nächsten Fortgang sodann bildet dem Metrum nach das elegische Silbenmaß, das den Pentameter hinzufügt und durch den regelmäßig wiederkehrenden Anschluß desselben an den Hexameter und die gleichen abbrechenden Einschnitte den ersten Beginn einer strophenartigen Abrundung zeigt. So ist denn auch die Elegie in ihrem ganzen Tone bereits lyrischer, sowohl die politische als auch die erotische, obschon sie besonders als gnomische Elegie dem epischen Herausheben und Aussprechen des Substantiellen als solchen noch naheliegt und daher auch ausschließlich fast den Ioniern angehört, bei welchen die objektive Anschauung die Oberhand hatte. Auch in Rücksicht auf das Musikalische ist es hauptsächlich nur die rhythmische Seite, die zur Ausbildung gelangt. - Daneben drittens entwickelt sich in einem neuen Versmaße das jambische Gedicht, das durch die Schärfe seiner Schmähungen eine schon subjektivere Richtung nimmt.
Die eigentlich lyrische Reflexion und Leidenschaft aber entwickelt sich erst in der sogenannten melischen Lyrik: die Metra werden verschiedenartiger, wechselnder, die Strophen reicher, die Elemente der musikalischen Begleitung durch die hinzutretende Modulation vollständiger; jeder Dichter macht sich ein seinem lyrischen Charakter entsprechendes Silbenmaß: Sappho für ihre weichen, doch von leidenschaftlicher Glut entflammten und im Ausdruck wirkungsvoll gesteigerten Ergüsse; Alkaios für seine männlich kühneren Oden, - und besonders lassen die Skolien bei der Mannigfaltigkeit ihres Inhalts und Tones auch eine vielseitige Nuancierung der Diktion und des Metrums zu.
Die chorische Lyrik endlich entfaltet sich sowohl in betreff auf Reichtum der Vorstellung und Reflexion, Kühnheit der Übergänge, Verknüpfungen usf. als auch in Rücksicht auf äußeren Vortrag am reichhaltigsten. Der Chorgesang kann mit einzelnen Stimmen wechseln, und die innerliche Bewegung begnügt sich nicht mit dem bloßen Rhythmus der Sprache und den Modulationen der Musik, sondern ruft als plastisches Element auch noch die Bewegungen des Tanzes zu Hilfe, so daß hier die subjektive Seite der Lyrik an ihrer Versinnlichung durch die Exekution ein vollständiges Gegengewicht erhält. Die Gegenstände dieser Art der Begeisterung sind die substantiellsten und gewichtigsten, die Verherrlichung der Götter sowie der Sieger bei den Kampfspielen, in welchen die in politischer Rücksicht häufig getrennten Griechen die objektive Anschauung ihrer nationalen Einheit fanden; und so fehlt es denn auch nach seiten der inneren Auffassungsweise nicht an epischen und objektiven Elementen. Pindar z. B., der in diesem Gebiete den Gipfel der Vollendung erreicht, geht, wie ich bereits angab, von den äußerlich sich darbietenden Anlässen leicht über zu tiefen Aussprüchen über die allgemeine Natur des Sittlichen, Göttlichen, dann der Heroen, heroischer Taten, Stiftungen von Staaten usf. und hat die plastische Veranschaulichung ganz ebenso wie den subjektiven Schwung der Phantasie in seiner Gewalt. Daher ist es aber nicht die Sache, die sich episch für sich fortmacht, sondern die subjektive Begeisterung, ergriffen von ihrem Gegenstande, so daß dieser umgekehrt vom Gemüte getragen und produziert erscheint.
Die spätere Lyrik der alexandrinischen Dichter ist dann weniger eine selbständige Weiterentwicklung als vielmehr eine gelehrtere Nachahmung und Bemühung um Eleganz und Korrektheit des Ausdrucks, bis sie sich endlich zu kleineren Anmutigkeiten, Scherzen usf. verstreut oder in Epigrammen sonst schon vorhandene Blumen der Kunst und des Lebens durch ein Band der Empfindung und des Einfalls neu zu verknüpfen und durch Witz des Lobes oder der Satire aufzufrischen sucht.
β) Bei den Römern zweitens findet die lyrische Poesie einen zwar mehrfach angebauten, doch weniger ursprünglich fruchtreichen Boden. Ihre Epoche des Glanzes beschränkt sich deshalb vornehmlich teils auf das Zeitalter des Augustus, in welchem sie als theoretische Äußerung und gebildeter Genuß des Geistes betrieben wurde, teils bleibt sie eine Sache mehr der übersetzenden oder kopierenden Geschicklichkeit und Frucht des Fleißes und Geschmacks als der frischen Empfindung und künstlerischen, originalen Konzeption. Dennoch aber stellt sich, der Gelehrsamkeit und fremden Mythologie sowie der Nachbildung vorzugsweise kälterer alexandrinischer Muster ungeachtet, die römische Eigentümlichkeit überhaupt und der individuelle Charakter und Geist der einzelnen Dichter zugleich wieder selbständig heraus und gibt, wenn man von der innersten Seele der Poesie und Kunst abstrahiert, im Felde sowohl der Ode als auch der Epistel, Satire und Elegie etwas durchaus in sich Fertiges und Vollendetes. Die spätere Satire dagegen, die sich hier hereinziehen läßt, betritt in ihrer Bitterkeit gegen das Verderben der Zeit, in ihrer stachelnden Entrüstung und deklamatorischen Tugend um so weniger den eigentlichen Kreis ungetrübter poetischer Anschauung, je mehr sie dem Bilde einer verworfenen Gegenwart nichts anderes entgegenzusetzen hat als eben jene Indignation und abstrakte Rhetorik eines tugendhaften Eifers.
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