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3. Zweck der Kunst
Da fragt es sich nun, welches das Interesse, der Zweck sei, den sich der Mensch bei Produktion solchen Inhalts in Form von Kunstwerken vorsetzt. Dies war der dritte Gesichtspunkt, den wir in Rücksicht auf das Kunstwerk aufstellten und dessen nähere Erörterung uns endlich zu dem wahren Begriff der Kunst selbst hinüberführen wird.
Werfen wir in dieser Beziehung einen Blick auf das gewöhnliche Bewußtsein, so ist seine geläufigste Vorstellung, die uns einfallen kann,
a) das Prinzip von der Nachahmung der Natur. Dieser Ansicht nach soll die Nachahmung als die Geschicklichkeit, Naturgestalten, wie sie vorhanden sind, auf eine ganz entsprechende Weise nachzubilden, den wesentlichen Zweck der Kunst ausmachen, und das Gelingen dieser der Natur entsprechenden Darstellung soll die volle Befriedigung geben.
α) In dieser Bestimmung liegt zunächst nur der ganz formelle Zweck, daß, was sonst schon in der Außenwelt und wie es da ist, nun auch vom Menschen danach, so gut er es mit seinen Mitteln vermag, zum zweiten Male gemacht werde. Dies Wiederholen kann aber sogleich als eine αα) überflüssige Bemühung angesehen werden, da wir, was Gemälde, Theateraufführungen usf. nachahmend darstellen, Tiere, Naturszenen, menschliche Begebenheiten, sonst schon in unseren Gärten oder im eigenen Hause oder in Fällen aus dem engeren und weiteren Bekanntenkreise vor uns haben. Und näher kann dies überflüssige Bemühen sogar als ein übermütiges Spiel angesehen werden, das ββ) hinter der Natur zurückbleibt. Denn die Kunst ist beschränkt in ihren Darstellungsmitteln und kann nur einseitige Täuschungen, z. B. nur für einen Sinn den Schein der Wirklichkeit hervorbringen und gibt in der Tat, wenn sie bei dem formellen Zweck bloßer Nachahmung stehenbleibt, statt wirklicher Lebendigkeit überhaupt nur die Heuchelei des Lebens. Wie denn auch die Türken als Mohammedaner bekanntlich keine Gemälde, Nachbildungen von Menschen usf. dulden und James Bruce1) auf seiner Reise nach Abessinien, als er einem Türken gemalte Fische vorzeigte, ihn zunächst zwar in Erstaunen setzte, doch bald genug die Antwort erhielt: "Wenn dieser Fisch am Jüngsten Tage gegen dich aufstehen und sagen wird, du hast mir wohl einen Leib gemacht, aber keine lebendige Seele, wie wirst du dich dann gegen diese Anklage rechtfertigen?" Auch der Prophet, wie es in der Sunna2) heißt, sagte schon zu den beiden Frauen Ommi Habiba und Ommi Selma, die ihm von Bildern in äthiopischen Kirchen erzählten: "Diese Bilder werden ihre Urheber verklagen am Tage des Gerichts." - Zwar gibt es ebenso Beispiele vollendet täuschender Nachbildung. Die gemalten Weintrauben des Zeuxis sind von alters her für den Triumph der Kunst und zugleich für den Triumph des Prinzips von der Nachahmung der Natur ausgegeben worden, weil lebende Tauben dieselben sollen angepickt haben. Zu diesem alten Beispiele könnte man das neuere von Büttners3) Affen hinzufügen, der einen gemalten Maikäfer aus Rösels4) Insektenbelustigungen [1741 ff.] zernagte und von seinem Herrn, dem er doch auf diese Weise das schönste Exemplar des kostbaren Werkes verdarb, zugleich um dieses Beweises von der Trefflichkeit der Abbildungen willen Verzeihung erhielt. Aber bei solchen und anderen Beispielen muß uns wenigstens sogleich beifallen, daß, statt Kunstwerke zu loben, weil sie sogar Tauben und Affen getäuscht, gerade nur die zu tadeln sind, welche das Kunstwerk zu erheben gedenken, wenn sie nur eine so niedrige Wirkung von demselben als das Letzte und Höchste zu prädizieren wissen. Im ganzen ist aber überhaupt zu sagen, daß bei bloßer Nachahmung die Kunst im Wettstreit mit der Natur nicht wird bestehen können und das Ansehen eines Wurms erhält, der es unternimmt, einem Elefanten nachzukriechen. - γγ) Bei solchem stets relativen Mißlingen des Nachbildens, dem Vorbilde der Natur gegenüber, bleibt als Zweck nichts als das Vergnügen an dem Kunststück übrig, etwas der Natur Ähnliches hervorzubringen. Und allerdings kann der Mensch sich freuen, was sonst schon vorhanden ist, nun auch durch seine eigene Arbeit, Geschicklichkeit und Emsigkeit zu produzieren. Aber auch diese Freude und Bewunderung wird für sich, gerade je ähnlicher das Nachbild dem natürlichen Vorbild ist, desto eher frostig und kalt oder verkehrt sich in Überdruß und Widerwillen. Es gibt Porträts, welche, wie geistreich ist gesagt worden, bis zur Ekelhaftigkeit ähnlich sind, und Kant führt in bezug auf dieses Gefallen am Nachgeahmten als solchem ein anderes Beispiel an, daß wir nämlich einen Menschen, der den Schlag der Nachtigall vollkommen nachzuahmen wisse - und es gibt deren -, bald satt haben und, sobald es sich entdeckt, daß ein Mensch der Urheber ist, sogleich solchen Gesanges überdrüssig sind. Wir erkennen darin dann nichts als ein Kunststück, weder die freie Produktion der Natur noch ein Kunstwerk, denn von der freien Produktionskraft des Menschen erwarten wir noch ganz anderes als eine solche Musik, die uns nur interessiert, wenn sie, wie beim Schlage der Nachtigall, absichtslos, dem Ton menschlicher Empfindung ähnlich, aus eigentümlicher Lebendigkeit hervorbricht. Überhaupt kann diese Freude über die Geschicklichkeit im Nachahmen nur immer beschränkt sein, und es steht dem Menschen besser an, Freude an dem zu haben, was er aus sich selber hervorbringt. In diesem Sinne hat die Erfindung jedes unbedeutenden technischen Werkes höheren Wert, und der Mensch kann stolzer darauf sein, den Hammer, den Nagel usf. erfunden zu haben, als Kunststücke der Nachahmung zu fertigen. Denn dieser abstrakt nachbildende Wetteifer ist dem Kunststück jenes gleichzuachten, der sich, ohne zu fehlen, Linsen durch eine kleine Öffnung zu werfen eingelernt hatte. Er ließ sich vor Alexander mit dieser Geschicklichkeit sehen, Alexander aber beschenkte ihn zum Lohn für diese Kunst ohne Nutzen und Gehalt mit einem Scheffel Linsen.
β) Indem nun ferner das Prinzip von der Nachahmung ganz formell ist, so verschwindet, wenn es zum Zwecke gemacht wird, darin das objektive Schöne selbst. Denn es handelt sich sodann nicht mehr darum, wie das beschaffen sei, was nachgebildet werden soll, sondern nur darum, daß es richtig nachgeahmt werde. Der Gegenstand und Inhalt des Schönen ist als das ganz Gleichgültige angesehen. Wenn man nämlich auch außerdem wohl bei Tieren, Menschen, Gegenden, Handlungen, Charakteren von einem Unterschiede des Schönen und Häßlichen spricht, so bleibt dies jedoch bei jenem Prinzipe ein Unterschied, welcher nicht der Kunst eigentümlich angehört, für die man allein das abstrakte Nachahmen übriggelassen hat. Da kann denn in Rücksicht auf die Auswahl der Gegenstände und ihren Unterschied der Schönheit und Häßlichkeit bei dem erwähnten Mangel an einem Kriterium für die unendlichen Formen der Natur nur der subjektive Geschmack das letzte sein, der sich keine Regel festsetzen und nicht über sich disputieren lasse. Und in der Tat, wenn man bei der Auswahl der darzustellenden Objekte von dem, was die Menschen schön und häßlich und darum nachahmungswürdig für die Kunst finden, von ihrem Geschmack ausgeht, so stehen alle Kreise der Naturgegenstände offen, deren nicht leicht einer seinen Liebhaber vermissen wird. Denn unter den Menschen z. B. ist es der Fall, daß, wenn auch nicht jeder Ehemann seine Frau, doch wenigstens jeder Bräutigam seine Braut - und zwar etwa sogar ausschließlich - schön findet, und daß der subjektive Geschmack für diese Schönheit keine feste Regel hat, kann man ein Glück für beide Teile nennen. Blicken wir vollends weiter über die einzelnen Individuen und ihren zufälligen Geschmack auf den Geschmack der Nationen, so ist auch dieser von der höchsten Verschiedenheit und Entgegensetzung. Wie oft hört man sagen, daß eine europäische Schönheit einem Chinesen oder gar einem Hottentotten mißfallen würde, insofern dem Chinesen ein ganz anderer Begriff von Schönheit innewohne als dem Neger und diesem wieder ein anderer als dem Europäer usf. Ja, betrachten wir die Kunstwerke jener außereuropäischen Völker, ihre Götterbilder z. B., die als verehrungswürdig und erhaben aus ihrer Phantasie entsprungen sind, so können sie uns als die scheußlichsten Götzenbilder vorkommen und ihre Musik als die abscheulichste in die Ohren klingen, während sie ihrerseits unsere Skulpturen, Malereien, Musiken für unbedeutend oder häßlich halten werden.
γ) Abstrahieren wir nun aber auch von einem objektiven Prinzip für die Kunst, wenn das Schöne auf den subjektiven und partikulären Geschmack gestellt bleiben soll, so finden wir dennoch bald von seiten der Kunst selbst, daß die Nachahmung des Natürlichen, welche doch ein allgemeines Prinzip, und zwar ein durch große Autorität bewährtes Prinzip zu sein schien, wenigstens in dieser allgemeinen, ganz abstrakten Form nicht zu nehmen sei. Denn sehen wir auf die verschiedenen Künste, so wird man sogleich zugeben, daß, wenn auch die Malerei, die Skulptur uns Gegenstände darstellt, welche den natürlichen ähnlich erscheinen oder deren Typus wesentlich von der Natur genommen ist, dagegen Werke der Architektur, die auch zu den schönen Künsten gehört, ebensowenig als Werke der Poesie, insofern diese sich nicht etwa auf bloße Beschreibung beschränken, keine Nachahmungen der Natur zu nennen sind. Wenigstens sähe man sich genötigt, wenn man bei den letzteren diesen Gesichtspunkt noch gelten lassen wollte, große Umwege zu machen, indem man den Satz auf vielfache Weise bedingen und die sogenannte Wahrheit wenigstens auf Wahrscheinlichkeit herabstimmen müßte. Bei der Wahrscheinlichkeit aber träte wieder eine große Schwierigkeit bei Bestimmung dessen ein, was wahrscheinlich ist und was nicht, und man würde doch außerdem die ganz willkürlichen, vollkommen phantastischen Erdichtungen nicht alle von der Poesie ausschließen wollen und können.
Der Zweck der Kunst muß deshalb noch in etwas anderem als in der bloß formellen Nachahmung des Vorhandenen liegen, welche in allen Fällen nur technische Kunststücke, nicht aber Kunstwerke zutage fördern kann. Freilich ist es ein dem Kunstwerke wesentliches Moment, daß es die Naturgestaltung zur Grundlage habe, weil es in Form äußerer und somit auch zugleich natürlicher Erscheinung darstellt. Für die Malerei z. B. ist es ein wichtiges Studium, die Farben in ihrem Verhältnisse zueinander, die Lichteffekte, Reflexe usf., ebenso die Formen und Gestalten der Gegenstände bis in die kleinsten Nuancen genau zu kennen und nachzubilden, und in dieser Beziehung hat sich denn auch hauptsächlich in neuerer Zeit das Prinzip von der Nachahmung der Natur und Natürlichkeit überhaupt wieder aufgetan, um die ins Schwache, Nebulose zurückgesunkene Kunst zu der Kräftigkeit und Bestimmtheit der Natur zurückzuführen oder um auf der anderen Seite gegen das bloß willkürlich Gemachte und Konventionelle, eigentlich sowohl Kunst- als Naturlose, wozu sich die Kunst verirrt hatte, die gesetzmäßige, unmittelbare und für sich feste Konsequenz der Natur in Anspruch zu nehmen. Wie sehr nun aber in diesem Streben nach einer Seite hin etwas Richtiges liegt, so ist dennoch die geforderte Natürlichkeit als solche nicht das Substantielle und Erste, welches der Kunst zugrunde liegt, und wenn also auch das äußere Erscheinen in seiner Natürlichkeit eine wesentliche Bestimmung ausmacht, so ist dennoch weder die vorhandene Natürlichkeit die Regel noch die bloße Nachahmung der äußeren Erscheinungen als äußerer der Zweck der Kunst.
b) Deshalb fragt es sich weiter, was denn nun der Inhalt für die Kunst und weshalb dieser Inhalt darzustellen sei. In dieser Beziehung begegnet uns in unserem Bewußtsein die gewöhnliche Meinung, daß es die Aufgabe und Zweck der Kunst sei, alles, was im Menschengeist Platz habe, an unseren Sinn, unsere Empfindung und Begeisterung zu bringen. Jenen bekannten Satz "Nihil humani a me alienum puto" soll die Kunst in uns verwirklichen. - Ihr Zweck wird daher darein gesetzt: die schlummernden Gefühle, Neigungen und Leidenschaften aller Art zu wecken und zu beleben, das Herz zu erfüllen und den Menschen, entwickelt oder noch unentwickelt, alles durchfühlen zu lassen, was das menschliche Gemüt in seinem Innersten und Geheimsten tragen, erfahren und hervorbringen kann, was die Menschenbrust in ihrer Tiefe und ihren mannigfaltigen Möglichkeiten und Seiten zu bewegen und aufzuregen vermag und was sonst der Geist in seinem Denken und in der Idee Wesentliches und Hohes habe, die Herrlichkeit des Edlen, Ewigen und Wahren, dann das Böse und Verbrecherische begreiflich zu machen, alles Gräßliche und Schauderhafte wie alle Lust und Seligkeit im Innersten kennen zu lehren und die Phantasie endlich in müßigen Spielen der Einbildungskraft sich dahingehen wie im verführerischen Zauber sinnlich reizender Anschauungen und Empfindungen schwelgen zu lassen. Diesen allseitigen Reichtum des Inhalts soll die Kunst einerseits ergreifen, um die natürliche Erfahrung unseres äußerlichen Daseins zu ergänzen, und andererseits jene Leidenschaften überhaupt erregen, damit die Erfahrungen des Lebens uns nicht ungerührt lassen und wir nun für alle Erscheinungen die Empfänglichkeit erlangen möchten. Solch eine Erregung geschieht nun aber in diesem Gebiete nicht durch die wirkliche Erfahrung selbst, sondern nur durch den Schein derselben, indem die Kunst ihre Produktionen täuschend an die Stelle der Wirklichkeit setzt. Die Möglichkeit dieser Täuschung durch den Schein der Kunst beruht darauf, daß alle Wirklichkeit beim Menschen das Medium der Anschauung und Vorstellung hindurchgehen muß und durch dies Medium erst in Gemüt und Willen eindringt. Hierbei nun ist es gleichgültig, ob die unmittelbare äußere Wirklichkeit ihn in Anspruch nimmt oder ob dies durch einen anderen Weg geschieht, nämlich durch Bilder, Zeichen und Vorstellungen, welche den Inhalt der Wirklichkeit in sich haben und darstellen. Der Mensch kann sich Dinge, welche nicht wirklich sind, vorstellen, als wenn sie wirklich wären. Ob es daher die äußere Wirklichkeit oder nur der Schein derselben ist, durch welche eine Lage, ein Verhältnis, irgendein Lebensinhalt überhaupt an uns gebracht wird: es bleibt für unser Gemüt dasselbe, um uns dem Wesen eines solchen Gehaltes gemäß zu betrüben und zu erfreuen, zu rühren und zu erschüttern und uns die Gefühle und Leidenschaften des Zorns, Hasses, Mitleidens, der Angst, Furcht, Liebe, Achtung und Bewunderung, der Ehre und des Ruhms durchlaufen zu machen.
Diese Erweckung aller Empfindungen in uns, das Hindurchziehen unseres Gemüts durch jeden Lebensinhalt, das Verwirklichen aller dieser inneren Bewegungen durch eine nur täuschende äußere Gegenwart ist es vornehmlich, was in dieser Beziehung als die eigentümliche, ausgezeichnete Macht der Kunst angesehen wird.
Indem nun aber die Kunst auf diese Weise Gutes und Schlechtes dem Gemüt und der Vorstellung einzuprägen und zum Edelsten zu stärken wie zu den sinnlichsten, eigennützigsten Gefühlen der Lust zu entnerven die Bestimmung haben soll, so ist ihr damit noch eine ganz formelle Aufgabe gestellt, und ohne für sich festen Zweck gäbe sie dann nur die leere Form für jede mögliche Art des Inhalts und Gehalts ab.
c) In der Tat hat die Kunst auch diese formelle Seite, daß sie alle möglichen Stoffe vor die Anschauung und Empfindung bringen und ausschmücken kann, wie der räsonierende Gedanke ebenso alle möglichen Gegenstände und Handlungsweisen bearbeiten und sie mit Gründen und Rechtfertigungen auszustatten vermag. Bei solcher Mannigfaltigkeit des Inhalts aber drängt sich sogleich die Bemerkung auf, daß die verschiedenen Empfindungen und Vorstellungen, welche die Kunst anregen oder befestigen soll, sich durchkreuzen, widersprechen und wechselseitig aufheben. Ja, nach dieser Seite hin ist die Kunst, je mehr sie gerade zu Entgegengesetztem begeistert, nur die Vergrößerung des Widerspruchs der Gefühle und Leidenschaften und macht uns bacchantisch umhertaumeln oder geht ebensosehr wie das Räsonnement zur Sophisterei und Skepsis fort. Diese Mannigfaltigkeit des Stoffs selbst nötigt uns deshalb, bei einer so formellen Bestimmung nicht stehenzubleiben, indem die Vernünftigkeit, welche in diese bunte Verschiedenheit eindringt, die Forderung macht, aus so widersprechenden Elementen dennoch einen höheren, in sich allgemeineren Zweck hervorgehen zu sehen und erreicht zu wissen. So gibt man wohl auch für das Zusammenleben der Menschen und den Staat den Endzweck an, daß sich alle menschlichen Vermögen und alle individuellen Kräfte nach allen Seiten und Richtungen hin entwickeln und zur Äußerung bringen sollen. Aber gegen eine so formelle Ansicht erhebt sich bald genug die Frage, in welche Einheit sich diese mancherlei Bildungen zusammenfassen, welches eine Ziel sie zu ihrem Grundbegriff und letzten Zweck haben müssen. Wie beim Begriffe des Staats entsteht auch beim Begriffe der Kunst das Bedürfnis teils nach einem den besonderen Seiten gemeinsamen, teils aber nach einem höheren substantiellen Zwecke.
Als ein solcher substantieller Zweck nun liegt der Reflexion die Betrachtung zunächst, daß die Kunst die Wildheit der Begierden zu mildern die Fähigkeit und den Beruf habe.
α) In Rücksicht auf diese erste Ansicht ist nur zu ermitteln in welcher der Kunst eigentümlichen Seite denn die Möglichkeit liege, das Rohe aufzuheben und die Triebe, Neigungen und Leidenschaften zu bändigen und zu bilden. Roheit überhaupt findet ihren Grund in einer direkten Selbstsucht der Triebe, welche geradezu und ausschließlich nur auf die Befriedigung ihrer Begierlichkeit losgehen. Die Begierde aber ist um so roher und herrischer, je mehr sie als einzelne und beschränkte den ganzen Menschen einnimmt, so daß er sich als Allgemeines nicht von dieser Bestimmtheit loszutrennen und als Allgemeines für sich zu werden die Macht behält. Und sagt der Mensch auch etwa in solchem Falle: "Die Leidenschaft ist mächtiger als ich", so ist zwar für das Bewußtsein das abstrakte Ich von der besonderen Leidenschaft geschieden, aber nur ganz formell, indem mit dieser Trennung nur ausgesagt ist, daß gegen die Gewalt der Leidenschaft das Ich als allgemeines in gar keinen Betracht komme. Die Wildheit der Leidenschaft besteht also in der Einheit des Ich als Allgemeinen mit dem beschränkten Inhalt seiner Begierde, so daß der Mensch keinen Willen mehr außerhalb dieser einzelnen Leidenschaft hat. Solche Roheit und ungezähmte Kraft der Leidenschaftlichkeit nun mildert die Kunst zunächst schon, insofern sie, was der Mensch in solchem Zustande fühlt und vollbringt, dem Menschen vorstellig macht. Und wenn sich die Kunst auch nur darauf beschränkt, der Anschauung Gemälde der Leidenschaften hinzustellen, ja wenn sie sogar denselben schmeicheln sollte, so liegt auch hierin bereits eine Kraft der Milderung, indem wenigstens dadurch dem Menschen, was er sonst nur unmittelbar ist, zum Bewußtsein gebracht wird. Denn nun betrachtet der Mensch seine Triebe und Neigungen, und während sie ihn sonst reflexionslos fortrissen, sieht er sie jetzt außerhalb seiner und beginnt bereits, da sie ihm als Objektives gegenüberstehen, in Freiheit gegen sie zu kommen. Deswegen kann es beim Künstler häufig der Fall sein, daß er, von Schmerz befallen, die Intensität seiner eigenen Empfindung durch ihre Darstellung für sich selber mildert und abschwächt. Ja selbst in den Tränen schon liegt ein Trost; der Mensch, zunächst in Schmerz ganz versunken und konzentriert, vermag dann wenigstens dies nur Innerliche in unmittelbarer Weise zu äußern. Noch erleichternder aber ist das Aussprechen des Innern in Worten, Bildern, Tönen und Gestalten. Deshalb war es eine gute alte Sitte, bei Todesfällen und Bestattungen Klageweiber anzustellen, um den Schmerz zur Anschauung in seiner Äußerung zu bringen. Auch durch Beileidsbezeugungen wird dem Menschen der Inhalt seines Unglücks vorgehalten, er muß bei dem vielen Besprechen desselben darüber reflektieren und wird dadurch erleichtert. Und so ist sich auszuweinen, sich auszusprechen von jeher als Mittel betrachtet, sich von der erdrückenden Last des Kummers zu befreien oder doch wenigstens das Herz zu erleichtern. Die Milderung der Gewalt der Leidenschaften findet daher ihren allgemeinen Grund darin, daß der Mensch aus dem unmittelbaren Befangensein in einer Empfindung losgelöst und derselben als eines ihm Äußeren bewußt wird, zu dem er sich nun auf ideelle Weise verhalten muß. Die Kunst durch ihre Darstellungen befreit innerhalb der sinnlichen Sphäre zugleich von der Macht der Sinnlichkeit. Zwar kann man vielfach die beliebte Redensart vernehmen, der Mensch habe mit der Natur in unmittelbarer Einheit zu bleiben; aber solche Einheit in ihrer Abstraktion ist gerade nur Roheit und Wildheit, und die Kunst eben, insoweit sie diese Einheit für den Menschen auflöst, hebt ihn mit milden Händen über die Naturbefangenheit hinweg. Die Beschäftigung mit ihren Gegenständen bleibt rein theoretisch und bildet dadurch, wenn auch zunächst nur die Aufmerksamkeit auf die Darstellungen überhaupt, dennoch weiterhin ebensosehr die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung derselben, die Vergleichung mit anderem Inhalt und die Offenheit für Allgemeinheit der Betrachtung und deren Gesichtspunkte.
β) Hieran schließt sich nun ganz konsequent die zweite Bestimmung, welche man der Kunst als ihren wesentlichen Zweck untergelegt hat, die Reinigung nämlich der Leidenschaften, die Belehrung und die moralische Vervollkommnung. Denn die Bestimmung, die Kunst solle die Roheit zügeln, die Leidenschaften bilden, blieb ganz formell und allgemein, so daß es sich wieder um eine bestimmte Art und um ein wesentliches Ziel dieser Bildung handelte.
αα) Zwar leidet die Ansicht von der Reinigung der Leidenschaft noch an demselben Mangel als die vorige von der Milderung der Begierden, jedoch hebt sie wenigstens schon näher heraus, daß die Darstellungen der Kunst eines Maßstabes bedürften, an welchem ihre Würdigkeit und Unwürdigkeit zu messen wäre. Dieser Maßstab ist eben die Wirksamkeit, in den Leidenschaften das Reine von dem Unreinen abzuscheiden. Sie bedarf deshalb eines Inhalts, der diese reinigende Kraft zu äußern imstande ist, und insofern solche Wirkung hervorzubringen den substantiellen Zweck der Kunst ausmachen soll, wird der reinigende Inhalt nach seiner Allgemeinheit und Wesentlichkeit ins Bewußtsein zu bringen sein.
ββ) Von dieser letzteren Seite her ist es als Zweck der Kunst ausgesprochen worden, daß sie belehren solle. Einerseits also besteht das Eigentümliche der Kunst in der Bewegung der Gefühle und der Befriedigung, welche in dieser Bewegung, selbst in der Furcht, dem Mitleiden, der schmerzlichen Rührung und Erschütterung liegt - also in dem befriedigenden Interessieren der Gefühle und Leidenschaften und insofern in einem Wohlgefallen, Vergnügen und Ergötzen an den Kunstgegenständen, ihrer Darstellung und Wirkung; andererseits aber soll dieser Zweck seinen höheren Maßstab nur in dem Belehrenden, in dem fabula docet und somit in dem Nutzen haben, den das Kunstwerk auf das Subjekt zu äußern vermag. In dieser Rücksicht enthält der Horazische Kernspruch
Et prodesse volunt et delectare poetae5)
in wenigen Worten das konzentriert, was später in unendlichem Grade ausgeführt, verwässert und zur flachsten Ansicht von der Kunst in ihrem äußersten Extrem geworden ist. - In betreff auf solche Belehrung nun ist sogleich zu fragen, ob sie direkt oder indirekt, explizite oder implizite im Kunstwerk enthalten sein soll. - Wenn es überhaupt um einen allgemeinen und nicht zufälligen Zweck zu tun ist, so kann dieser Endzweck bei der wesentlichen Geistigkeit der Kunst nur selber ein geistiger sein, und zwar wiederum ein nicht zufälliger, sondern an und für sich seiender. Dieser Zweck in Rücksicht auf das Lehren könnte nur darin liegen, an und für sich wesentlichen geistigen Gehalt durch das Kunstwerk ans Bewußtsein zu bringen. Von dieser Seite her ist zu behaupten, daß die Kunst, je höher sie sich stellt, desto mehr solchen Inhalt in sich aufzunehmen habe und in seinem Wesen erst den Maßstab finde, ob das Ausgedrückte gemäß oder nicht gemäß sei. Die Kunst ist in der Tat die erste Lehrerin der Völker geworden.
Wird aber der Zweck der Belehrung so sehr als Zweck behandelt, daß die allgemeine Natur des dargestellten Gehaltes als abstrakter Satz, prosaische Reflexion, allgemeine Lehre für sich direkt hervortreten und expliziert werden und nicht nur indirekt in der konkreten Kunstgestalt implizite enthalten sein soll, dann ist durch solche Trennung die sinnliche, bildliche Gestalt, die das Kunstwerk erst gerade zum Kunstwerk macht, nur ein müßiges Beiwesen, eine Hülle, die als bloße Hülle, ein Schein, der als bloßer Schein ausdrücklich gesetzt ist. Damit aber ist die Natur des Kunstwerks selbst entstellt. Denn das Kunstwerk soll einen Inhalt nicht in seiner Allgemeinheit als solchen, sondern diese Allgemeinheit schlechthin individualisiert, sinnlich vereinzelt vor die Anschauung bringen. Geht das Kunstwerk nicht aus diesem Prinzipe hervor, sondern hebt es die Allgemeinheit mit dem Zweck abstrakter Lehre heraus, dann ist das Bildliche und Sinnliche nur ein äußerlicher und überflüssiger Schmuck und das Kunstwerk ein in ihm selbst gebrochenes, in welchem Form und Inhalt nicht mehr als ineinander verwachsen erscheinen. Das sinnlich Einzelne und das geistig Allgemeine sind sodann einander äußerlich geworden. - Ist nun ferner der Zweck der Kunst auf diesen Lehrnutzen beschränkt, so wird die andere Seite, die nämlich des Wohlgefallens, Unterhaltens, Ergötzens für sich als unwesentlich ausgegeben und soll ihre Substanz nur in der Nützlichkeit der Lehre haben, deren Begleiterin sie ist. Damit aber wird zugleich ausgesprochen, daß die Kunst hiernach nicht in sich selbst ihre Bestimmung und ihren Endzweck trage, sondern daß ihr Begriff in etwas anderem liege, dem sie als Mittel diene. Die Kunst ist in diesem Falle nur eines unter den mehreren Mitteln, welche sich für den Zweck der Belehrung brauchbar erweisen und angewendet werden. Dadurch aber sind wir bis zu der Grenze gekommen, an welcher die Kunst aufhören soll, für sich selber Zweck zu sein, indem sie entweder zu einem bloßen Spiel der Unterhaltung oder zu einem bloßen Mittel der Belehrung herabgesetzt ist.
γγ) Am schärfsten tritt diese Grenzlinie hervor, wenn nun wiederum nach einem höchsten Ziel und Zweck gefragt wird, dessentwegen die Leidenschaften zu reinigen, die Menschen zu belehren seien. Als dieses Ziel ist in neuerer Zeit häufig die moralische Besserung angegeben und der Zweck der Kunst darein gesetzt worden, daß sie die Neigungen und Triebe für die moralische Vollkommenheit vorzubereiten und zu diesem Endziele hinzuführen habe. In dieser Vorstellung ist Belehrung und Reinigung vereinigt, indem die Kunst durch die Einsicht in das wahrhaft moralische Gute und somit durch Belehrung zugleich zur Reinigung auffordere und so erst die Besserung des Menschen als ihren Nutzen und höchsten Zweck bewerkstelligen solle.
Was nun die Kunst in Beziehung auf moralische Besserung betrifft, so läßt sich darüber zunächst dasselbe als über den Zweck der Belehrung sagen. Daß die Kunst in ihrem Prinzip nicht das Immoralische und dessen Beförderung zur Absicht haben dürfe, ist leicht zuzugeben. Aber ein anderes ist, sich die Immoralität, ein anderes, sich nicht das Moralische zum ausdrücklichen Zwecke der Darstellung zu machen. Aus jedem echten Kunstwerke läßt sich eine gute Moral ziehen, doch kommt es dabei allerdings auf eine Erklärung und deshalb auf den an, welcher die Moral herauszieht. So kann man die unsittlichsten Schilderungen damit verteidigen hören, daß man das Böse, die Sünde kennen müsse, um moralisch zu handeln; umgekehrt hat man gesagt, die Darstellung der Maria Magdalena, der schönen Sünderin, die nachher Buße getan, habe schon viele zur Sünde verführt, weil es die Kunst so schön erscheinen lasse, Buße zu tun, wozu denn gehöre, vorher gesündigt zu haben. - Die Lehre von der moralischen Besserung aber, konsequent durchgeführt, wird nicht damit zufrieden sein, daß aus einem Kunstwerk auch eine Moral herausgedeutet werden könne, sondern sie wird im Gegenteil die moralische Lehre deutlich als den substantiellen Zweck des Kunstwerks hervorleuchten lassen wollen, ja selber ausdrücklich nur moralische Gegenstände, moralische Charaktere, Handlungen und Begebenheiten für die Darstellung erlauben. Denn die Kunst hat die Wahl bei ihren Gegenständen im Unterschiede der Geschichtsschreibung oder der Wissenschaften, denen ihr Stoff gegeben ist.
Um nach dieser Seite hin die Ansicht von dem moralischen Zwecke der Kunst gründlich beurteilen zu können, fragt es sich vor allem nach dem bestimmten Standpunkte des Moralischen, der von dieser Ansicht prätendiert wird. Fassen wir den Standpunkt der Moral, wie wir dieselbe heutigentags im besten Sinne des Wortes zu nehmen haben, näher ins Auge, so ergibt sich bald, daß ihr Begriff nicht mit dem, was wir sonst schon überhaupt Tugend, Sittlichkeit, Rechtschaffenheit usf. nennen, unmittelbar zusammenfalle. Ein sittlich tugendhafter Mensch ist darum nicht auch schon moralisch. Denn zur Moral gehört die Reflexion und das bestimmte Bewußtsein über das, was das Pflichtgemäße ist, und das Handeln aus diesem vorhergegangenen Bewußtsein. Die Pflicht selbst ist das Gesetz des Willens, das der Mensch jedoch frei aus sich feststellt und nun zu dieser Pflicht der Pflicht und ihrer Erfüllung wegen sich entschließen soll, indem er das Gute nur tut aus der gewonnenen Überzeugung heraus, daß es das Gute sei. Dies Gesetz nun aber, die Pflicht, welche um der Pflicht willen zur Richtschnur aus freier Überzeugung und innerem Gewissen gewählt und ausgeführt wird, ist für sich das abstrakt Allgemeine des Willens, das seinen direkten Gegensatz an der Natur, den sinnlichen Trieben, den eigensüchtigen Interessen, den Leidenschaften und an allem hat, was man zusammengefaßt Gemüt und Herz nennt. In diesem Gegensatze ist die eine Seite so betrachtet, daß sie die andere aufhebt, und da sie beide als entgegengesetzt im Subjekt vorhanden sind, so hat dasselbe, als sich aus sich entschließend, die Wahl, der einen oder der anderen zu folgen. Moralisch aber wird solcher Entschluß und die ihm gemäß vollführte Handlung nach diesem Standpunkte nur durch die freie Überzeugung von der Pflicht einerseits und durch die Besiegung nicht nur des besonderen Willens, der natürlichen Triebfedern, Neigungen, Leidenschaften usf., sondern auch der edlen Gefühle und höheren Triebe andererseits. Denn die moderne moralische Ansicht geht von dem festen Gegensatze des Willens in seiner geistigen Allgemeinheit und seiner sinnlichen natürlichen Besonderheit aus und besteht nicht in der vollendeten Vermittlung dieser entgegengesetzten Seiten, sondern in ihrem wechselseitigen Kampfe gegeneinander, welcher die Forderung mit sich führt, daß die Triebe, in ihrem Widerstreit gegen die Pflicht, derselben weichen sollten.
Dieser Gegensatz nun tritt für das Bewußtsein nicht nur in dem beschränkten Gebiete des moralischen Handelns auf, sondern tut sich als eine durchgreifende Scheidung und Entgegensetzung dessen hervor, was an und für sich, und dessen, was äußere Realität und Dasein ist. Ganz abstrakt gefaßt, ist es der Gegensatz des Allgemeinen, das für sich in derselben Weise gegen das Besondere wie dieses seinerseits gegen das Allgemeine fixiert wird; konkreter erscheint er in der Natur als Gegensatz des abstrakten Gesetzes gegen die Fülle der einzelnen, für sich auch eigentümlichen Erscheinungen; im Geist als das Sinnliche und Geistige im Menschen, als der Kampf des Geistes gegen das Fleisch, der Pflicht um der Pflicht willen, des kalten Gebotes mit dem besonderen Interesse, warmen Gemüt, den sinnlichen Neigungen und Antrieben, dem Individuellen überhaupt; als der harte Gegensatz der inneren Freiheit und der äußeren Naturnotwendigkeit; ferner als der Widerspruch des toten, in sich leeren Begriffs im Angesicht der vollen konkreten Lebendigkeit, der Theorie, des subjektiven Denkens, dem objektiven Dasein und der Erfahrung gegenüber.
Dies sind Gegensätze, die nicht etwa der Witz der Reflexion oder die Schulansicht der Philosophie sich erfunden, sondern die von jeher in mannigfacher Form das menschliche Bewußtsein beschäftigt und beunruhigt haben, wenn sie auch am schärfsten durch die neuere Bildung erst ausgeführt und auf die Spitze des härtesten Widerspruchs hinaufgetrieben sind. Die geistige Bildung, der moderne Verstand bringt im Menschen diesen Gegensatz hervor, der ihn zur Amphibie macht, indem er nun in zwei Welten zu leben hat, die sich widersprechen, so daß in diesem Widerspruch nun auch das Bewußtsein sich umhertreibt und, von der einen Seite herübergeworfen zu der anderen, unfähig ist, sich für sich in der einen wie in der anderen zu befriedigen. Denn einerseits sehen wir den Menschen in der gemeinen Wirklichkeit und irdischen Zeitlichkeit befangen, von dem Bedürfnis und der Not bedrückt, von der Natur bedrängt, in die Materie, sinnlichen Zwecke und deren Genuß verstrickt, von Naturtrieben und Leidenschaften beherrscht und fortgerissen; andererseits erhebt er sich zu ewigen Ideen, zu einem Reiche des Gedankens und der Freiheit, gibt sich als Wille allgemeine Gesetze und Bestimmungen, entkleidet die Welt von ihrer belebten, blühenden Wirklichkeit und löst sie zu Abstraktionen auf, indem der Geist sein Recht und seine Würde nun allein in der Rechtlosigkeit und Mißhandlung der Natur behauptet, der er die Not und Gewalt heimgibt, welche er von ihr erfahren hat. Mit dieser Zwiespältigkeit des Lebens und Bewußtseins ist nun aber für die moderne Bildung und ihren Verstand die Forderung vorhanden, daß solch ein Widerspruch sich auflöse. Der Verstand jedoch kann sich von der Festigkeit der Gegensätze nicht lossagen; die Lösung bleibt deshalb für das Bewußtsein ein bloßes Sollen, und die Gegenwart und Wirklichkeit bewegt sich nur in der Unruhe des Herüber und Hinüber, das eine Versöhnung sucht, ohne sie zu finden. Da ergeht denn die Frage, ob solch allseitiger durchgreifender Gegensatz, der über das bloße Sollen und Postulat der Auflösung nicht hinauskommt, das an und für sich Wahre und der höchste Endzweck überhaupt sei. Ist die allgemeine Bildung in dergleichen Widerspruch hineingeraten, so wird es die Aufgabe der Philosophie, die Gegensätze aufzuheben, d. i. zu zeigen: weder der eine in seiner Abstraktion noch der andere in gleicher Einseitigkeit hätten Wahrheit, sondern seien das Sichselbstauflösende; die Wahrheit liege erst in der Versöhnung und Vermittlung beider, und diese Vermittlung sei keine bloße Forderung, sondern das an und für sich Vollbrachte und stets sich Vollbringende. Diese Einsicht stimmt mit dem unbefangenen Glauben und Wollen unmittelbar zusammen, das gerade diesen aufgelösten Gegensatz stets vor der Vorstellung hat und ihn sich im Handeln zum Zwecke setzt und ausführt. Die Philosophie gibt nur die denkende Einsicht in das Wesen des Gegensatzes, insofern sie zeigt, wie das, was Wahrheit ist, nur die Auflösung desselben ist, und zwar in der Weise, daß nicht etwa der Gegensatz und seine Seiten gar nicht, sondern daß sie in Versöhnung sind.
Indem nun der letzte Endzweck, die moralische Besserung, auf einen höheren Standpunkt hindeutete, so werden wir diesen höheren Standpunkt uns auch für die Kunst vindizieren müssen. Dadurch fällt sogleich die schon bemerklich gemachte falsche Stellung fort, daß die Kunst als Mittel für moralische Zwecke und den moralischen Endzweck der Welt überhaupt durch Belehrung und Besserung zu dienen und somit ihren substantiellen Zweck nicht in sich, sondern in einem anderen habe. Wenn wir deshalb jetzt noch von einem Endzweck zu sprechen fortfahren, so ist zunächst die schiefe Vorstellung zu entfernen, welche in der Frage nach einem Zwecke die Nebenbedeutung der Frage nach einem Nutzen festhält. Das Schiefe liegt hier darin, daß sich das Kunstwerk sodann auf ein anderes beziehen soll, das als das Wesentliche, Seinsollende für das Bewußtsein hingestellt ist, so daß nun das Kunstwerk nur als ein nützliches Werkzeug zur Realisation dieses außerhalb des Kunstbereichs selbständig für sich geltenden Zwecks Gültigkeit haben würde.
Hiergegen steht zu behaupten, daß die Kunst die Wahrheit in Form der sinnlichen Kunstgestaltung zu enthüllen, jenen versöhnten Gegensatz darzustellen berufen sei und somit ihren Endzweck in sich, in dieser Darstellung und Enthüllung selber habe. Denn andere Zwecke, wie Belehrung, Reinigung, Besserung, Gelderwerb, Streben nach Ruhm und Ehre, gehen das Kunstwerk als solches nichts an und bestimmen nicht den Begriff desselben.
1) James Bruce, 1730-1794, englischer Forschungsreisender
2) Religiöse Vorschriften der Sunniten
3) Christian Wilhelm Büttner, 1716-1801, Naturforscher
4) August Johann Rösel von Rosenhof, 1705-1759, Zoologe und Maler
5) De arte poetica, v. 333: "aut prodesse volunt aut delectare poetae". ("Die Dichter wollen entweder nützen oder erfreuen.")
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