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Inhalt - Übersicht

Einleitung

Erster Teil.
Die Idee des Kunstschönen oder das Ideal

Stellung der Kunst im Verhältnis zur endlichen Wirklichkeit und zur Religion und Philosophie

Zweiter Teil. Entwicklung des Ideals zu den besonderen Formen des Kunstschönen

Dritter Teil.
Das System der einzelnen Künste

Vom “Ende der Kunst” >

Wie nun aber die Kunst in der Natur und den endlichen Gebieten des Lebens ihr Vor hat, ebenso hat sie auch ein Nach, ...  >>>

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Vorlesungen über die Ästhetik
                          
(1835-1838)                                                              

   Inhalt - Übersicht       

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c. Das Epos als einheitsvolle Totalität

Wir haben bisher in betreff auf die besonderen Anforderungen an das eigentliche Epos auf der einen Seite von dem allgemeinen Welthintergrunde gesprochen, auf der anderen Seite von der individuellen Begebenheit, die auf diesem Boden vor sich geht, sowie von den unter Leitung der Götter und des Schicksals handelnden Individuen. Diese beiden Hauptmomente nun müssen sich drittens zu ein und demselben epischen Ganzen zusammenschließen, rücksichtlich dessen ich nur folgende Punkte näher berühren will:

erstens nämlich die Totalität der Objekte, welche um des Zusammenhanges der besonderen Handlung mit ihrem substantiellen Boden willen zur Darstellung gelangen dürfen;

zweitens den von der Lyrik und dramatischen Poesie verschiedenen Charakter der epischen Entfaltungsweise;

drittens die konkrete Einheit, zu welcher sich das epische Werk seiner breiten Auseinanderlegung ungeachtet in sich abzurunden hat.

α) Der Inhalt des Epos ist, wie wir sahen, das Ganze einer Welt, in der eine individuelle Handlung geschieht. Hier treten deshalb die mannigfaltigsten Gegenstände ein, die zu den Anschauungen, Taten und Zuständen einer Welt gehören.

αα) Die lyrische Dichtkunst geht zwar zu bestimmten Situationen fort, innerhalb welcher dem lyrischen Subjekte eine große Mannigfaltigkeit des Inhalts in seine Empfindung und Reflexion hineinzuziehen vergönnt bleibt; doch ist es in dieser Gattung immer die Form des Inneren, die den Grundtypus abgibt und schon dadurch die breite Veranschaulichung der äußeren Realität von sich ausschließt. Umgekehrt führt uns das dramatische Kunstwerk die Charaktere und das Geschehen der Handlung selbst in wirklicher Lebendigkeit vor, so daß hier die Schilderung des Lokals, der Außengestalt der handelnden Personen und des Begebens als solchen von Hause aus fortfällt und überhaupt mehr die inneren Motive und Zwecke als der breite Weltzusammenhang und die reale Zuständlichkeit der Individuen zur Sprache kommen muß.
Im Epos aber gewinnt außer der umfassenden Nationalwirklichkeit, auf welcher die Handlung basiert ist, ebensowohl das Innere als das Äußere Platz, und so legt sich hier die ganze Totalität dessen auseinander, was zur Poesie des menschlichen Daseins zu rechnen ist. Hierher können wir auf der einen Seite die Naturumgebung zählen, und zwar nicht nur etwa als die jedesmalige bestimmte Örtlichkeit, in welcher die Handlung vor sich geht, sondern auch als die Anschauung von dem Ganzen der Natur; wie ich z. B. bereits anführte, daß wir aus der Odyssee kennenlernen, in welcher Weise sich die Griechen zur Zeit des Homer die Form der Erde, des umherfließenden Meeres usf. zur Vorstellung brachten. Aber diese Naturmomente sind nicht der Hauptgegenstand, sondern die bloße Grundlage; denn auf der anderen Seite entfaltet sich als das Wesentlichere die Vorstellung von der gesamten Götterwelt in ihrem Dasein, Wirken, Handeln, und dazwischen drittens tritt das Menschliche als solches in seiner Totalität häuslicher und öffentlicher, friedlicher und kriegerischer Situationen, Sitten, Gebräuche, Charaktere und Begebnisse; und zwar immer nach zwei Richtungen hin, sowohl nach der des individuellen Begebnisses als auch nach der eines allgemeinen Zustandes innerhalb nationeller und sonstiger Wirklichkeit.
In bezug auf diesen geistigen Inhalt endlich stellt sich nicht etwa nur das äußere Geschehen dar, sondern gleichmäßig sollen uns auch die inneren Empfindungen, die Zwecke und Absichten, die Darlegung des berechtigten oder unberechtigten individuellen Handelns zum Bewußtsein kommen.
Der eigentliche Stoff des Lyrischen und Dramatischen also bleibt gleichfalls nicht aus, obschon im Epischen sich diese Seiten, statt die Grundform für die ganze Darstellung herzugeben, nur als Momente geltend machen und dem Epos seinen eigentümlichen Charakter nicht abstreifen dürfen. Es ist daher nicht als wahrhaft episch anzusehen, wenn die lyrischen Äußerungen, wie dies z. B. bei Ossian der Fall ist, den Ton und die Färbung bestimmen oder wenn sie, wie zum Teil bei Tasso schon und dann vornehmlich bei Milton und Klopstock, sich als diejenige Partie herausheben, in welcher der Dichter das Beste leistete, was er zu liefern vermag; sondern die Empfindungen und Reflexionen müssen, wie das Äußere, gleichfalls als etwas Geschehenes, Gesagtes, Gedachtes berichtet werden und den ruhig fortschreitenden epischen Ton nicht unterbrechen. Der abgerissene Schrei der Empfindung, überhaupt das Sichaussingen der inneren Seele, die nur, um sich darstellig zu machen, zum Ergusse kommt, hat daher im Epos keinen Spielraum.
Nicht minder lehnt die epische Poesie auch die Lebendigkeit des dramatischen Dialogs von sich ab, in welchem die Individuen ihrer unmittelbaren Gegenwart nach ein Gespräch führen und die Hauptrücksicht immer das charakteristische Entgegenreden der Personen bleibt, die einander überzeugen, gebieten, imponieren oder mit der Leidenschaft ihrer Gründe gleichsam umrennen wollen.

ββ) Den eben angeführten vielseitigen Inhalt nun aber zweitens hat uns das Epos nicht in seiner nur für sich selbst daseienden Objektivität vor Augen zu stellen; sondern die Form, durch welche es zum eigentlichen Epos wird, ist, wie ich schon mehrfach sagte, ein individuelles Begebnis.
Soll diese in sich begrenzte Handlung mit dem sonst noch hinzutretenden Stoffe in Verbindung bleiben, so muß dieser weitere Kreis in steten Bezug auf das Geschehen der individuellen Begebenheit gebracht sein und darf nicht selbständig aus derselben herausfallen. Für solch ein Ineinanderflechten gibt die Odyssee das schönste Vorbild. Die häuslichen Friedenszustände der Griechen z. B. sowie die Vorstellungen von fremden barbarischen Völkern und Ländern, von dem Reiche der Schatten usf. sind so eng mit der individuellen Irrfahrt des heimkehrenden Odysseus und des nach dem Vater ausreisenden Telemachos verwebt, daß sich keine dieser Seiten abstrakt von dem eigentlichen Begebnis ablöst und sich für sich verselbständigt oder wie der Chor in der Tragödie, der nicht handelt und nur das Allgemeine vor sich hat, träge sich in sich zurückziehen kann, sondern mit in das Fortrücken der Begebenheiten einwirkt. In der ähnlichen Weise erhält auch die Natur und Götterwelt nicht ihrer selbst wegen, sondern im Verhältnis zu der besonderen Handlung, welche zu leiten die Obliegenheit der Götter ist, eine dadurch erst individuelle und lebensreiche Darstellung. In diesem Falle allein kann das Erzählen nirgend als eine bloße Schilderung unabhängiger Gegenstände erscheinen, da es überall das fortlaufende Geschehen der Begebenheit berichtet, welche sich der Dichter zum einigenden Stoffe des Ganzen auserwählt hat. Umgekehrt aber darf das besondere Begebnis seinerseits die substantielle Nationalgrundlage und Totalität, auf der es sich hinbewegt, nicht so sehr in sich hineinnehmen und aufzehren wollen, daß dieselbe sich aller selbständigen Existenz entschlagen und sich als nur dienstbar erweisen müßte. In dieser Hinsicht wäre z. B. der Zug des Alexander gegen den Orient kein guter Stoff für eine echte Epopöe. Denn diese Heldentat beruht ihrem Entschluß wie ihrer Ausführung nach so sehr nur auf ihm als diesem einen Individuum, sein individueller Geist und Charakter ist so sehr ihr alleiniger Träger, daß der nationalen Basis, dem Heer und den Führern desselben, ganz die unabhängige Existenz und Stellung fehlt, die wir oben als notwendig bezeichnet haben. Alexanders Heer ist sein Volk, schlechthin an ihn und seinen Befehl gebunden, ihm nur untergeben, nicht freiwillig gefolgt; die eigentlich epische Lebendigkeit aber liegt darin, daß beide Hauptseiten, die besondere Handlung mit ihren Individuen und der allgemeine Weltzustand, zwar in steter Vermittlung bleiben, doch in diesem wechselseitigen Verhältnis zugleich die nötige Selbständigkeit bewahren, um sich als eine Existenz geltend zu machen, die auch für sich selber Dasein gewinnt und hat.

γγ) Wenn wir nun schon an den epischen substantiellen Boden überhaupt die Forderung stellten, daß er, um aus sich eine individuelle Handlung entstehen zu lassen, kollisionsvoll sein müsse, und zweitens sahen, daß diese allgemeine Grundlage nicht für sich, sondern nur in Form einer bestimmten Begebenheit und in bezug auf sie zum Vorschein kommen dürfe, so wird in diesem individuellen Begebnisse auch der Ausgangspunkt für das ganze epische Gedicht zu suchen sein. Dies ist besonders für die Anfangssituationen von Wichtigkeit. Auch hierin können wir die Ilias und Odyssee als Muster bezeichnen. In ersterer ist der Trojanische Krieg der allgemeine, lebendig mit eintretende Hintergrund, der uns aber nur innerhalb der bestimmten Begebenheit, welche sich an den Zorn des Achilles knüpft, vor Augen kommt, und so beginnt das Gedicht in schönster Klarheit mit den Situationen, welche den Haupthelden zur Leidenschaft gegen Agamemnon aufreizen. In der Odyssee sind es zwei verschiedene Zustände, die den Stoff für den Anfang liefern können: die Irrfahrt des Odysseus und die häuslichen Vorfälle auf Ithaka. Homer rückt sie beide nahe aneinander, indem er zuerst von dem heimkehrenden Helden nur kurz berichtet, daß Kalypso ihn zurückgehalten, und dann sogleich zu Penelopes Leiden und der Fahrt des Telemachos überschreitet. Was die gehinderte Rückkehr möglich und was sie von seiten der daheim Zurückgebliebenen notwendig macht, beides überschauen wir mit einem Blicke.

β) Von solch einem Anfange aus hat nun zweitens das epische Werk in einer von dem lyrischen und dramatischen Gedicht ganz verschiedenen Weise fortzuschreiten. 

αα) Das Nächste, was in Ansehung hierauf zu berücksichtigen ist, betrifft die Breite, zu welcher das Epos auseinandergeht. Sie findet ihren Grund sowohl im Inhalte desselben als auch in der Form.
Die Mannigfaltigkeit der Gegenstände, welche zu einer nach ihren inneren Kräften, Trieben und Verlangen des Geistes wie nach ihrer äußerlichen Situation und Umgebung vollständig entwickelten epischen Welt gehören, haben wir soeben gesehen. Indem nun alle diese Seiten die Form der Objektivität und realen Erscheinung annehmen, bildet sich jede derselben zu einer in sich selbständigen inneren und äußeren Gestalt aus, bei welcher der epische Dichter beschreibend oder darstellend verweilen und ihr erlauben darf, sich in ihrer Äußerlichkeit zu entfalten, während die Lyrik alles, was sie auffaßt, zur Innigkeit der Empfindung konzentriert oder zur zusammenfassenden Allgemeinheit der Reflexion verflüchtigt.
Mit der Objektivität ist unmittelbar das Außereinander und die bunte Fülle mannigfaltiger Züge gegeben. Schon in dieser Rücksicht hat in keiner anderen Gattung das Episodische so sehr ein Recht, sich fast bis zum Scheine ungefesselter Selbständigkeit zu emanzipieren, als im Epos. Die Lust an dem, was da ist, und an der Form der wirklichen Realität darf jedoch, wie ich schon sagte, nicht so weit gehen, auch Zustände und Erscheinungen mit in das Gedicht aufzunehmen, welche in gar keinem Zusammenhange mit der besonderen Handlung oder deren Grundlage stehen, sondern selbst die Episoden müssen sich in betreff auf den Fortgang der Begebenheit, sei es auch als Hemmnis und aufhaltendes Zwischenereignis, wirksam erweisen. Dessenungeachtet kann um der Form der Objektivität willen im Epos die Verbindung der einzelnen Teile nur lockerer Art sein. Denn im Objektiven bleibt die Vermittlung das innere Ansich; was sich dagegen nach außen kehrt, ist die unabhängige Existenz der besonderen Seiten.
Dieser Mangel an strenger Einigung und herausgehobener Beziehung der einzelnen Glieder des epischen Gedichtes, das seiner ursprünglichen Gestalt nach außerdem eine frühe Epoche des Entstehens hat, wird dann der Grund, daß es sich einerseits leichter als lyrische und dramatische Werke zu späteren Anfügungen oder Fortlassungen hergibt, während es andererseits selber einzelne, schon vorher bis zu einer gewissen Kunsthöhe ausgestaltete Sagen als besondere Seiten in das neue zusammenfassende Ganze einreiht.

ββ) Wenden wir uns nun zweitens auf die Art und Weise hin, in welcher die epische Poesie den Fortgang und Verlauf der Ereignisse zu motivieren befugt sein kann, so darf sie den Grund dessen, was geschieht, weder nur aus der subjektiven Stimmung noch aus der bloßen Individualität des Charakters entnehmen und dadurch das eigentliche Gebiet des Lyrischen und Dramatischen betreten, sondern muß sich auch in dieser Rücksicht an die Form der Objektivität halten, welche den epischen Grundtypus ausmacht.
Auf der einen Seite nämlich sahen wir bereits mehrfach, daß die äußeren Umstände für die erzählende Darstellung von nicht minderer Gewichtigkeit wären als die Bestimmungen vom Innern des Charakters aus.
Denn im Epos stehen Charakter und Notwendigkeit des Äußerlichen als gleich stark nebeneinander; und das epische Individuum kann deshalb den äußeren Umständen, ohne Schaden für seine poetische Individualität, nachzugeben scheinen und in seinem Handeln das Resultat der Verhältnisse sein, so daß diese dadurch als das Mächtige an die Stelle des im Drama ausschließlich wirkenden Charakters treten.
In der Odyssee vornehmlich ist der Fortgang der Ereignisse fast durchweg in dieser Weise motiviert. Ebenso in den Abenteuern des Ariost und sonstigen Epopöen, welche einen mittelalterlichen Stoff besingen. Auch der Götterbefehl, welcher den Äneas zum Gründer Roms bestimmt, sowie die mannigfaltigen Vorfälle, welche die Ausführung ins Weite hinausschieben, würden eine schlechthin undramatische Motivierungsart sein. Der ähnliche Fall tritt in Tassos Befreitem Jerusalem ein, wo sich außer der tapferen Gegenwehr der Sarazenen noch vielfach Naturereignisse dem Zwecke des christlichen Heeres entgegenstellen.
Und solcher Beispiele ließen sich viele fast aus allen berühmten Epopöen anführen.
Denn solche Stoffe gerade, in welchen diese Darstellungsweise möglich und notwendig wird, hat der epische Dichter auszuwählen.

Dasselbige findet da statt, wo sich das Resultat aus dem wirklichen Entschluß der Individuen ergeben soll. Auch hier nämlich muß nicht dasjenige herausgenommen und ausgesprochen werden, was der Charakter im dramatischen Sinne des Worts, seinem Zwecke und der individuellen Leidenschaft nach, die ihn einseitig beseelt, aus den Umständen und Verhältnissen macht, um seinen Charakter sowohl gegen dies Äußere als auch gegen andere Individuen zu behaupten; sondern das epische Individuum schließt dies reine Handeln nach seinem subjektiven Charakter sowie den Erguß bloß subjektiver Stimmungen und zufälliger Gefühle aus und hält sich umgekehrt einerseits an die Umstände und deren Realität, so wie andererseits das, wodurch es bewegt wird, das an und für sich Gültige, Allgemeine, Sittliche usw. sein muß. Homer besonders gibt hierüber zu unerschöpflichen Betrachtungen Anlaß.
Die Klagen z. B. der Hekuba über Hektors, des Achilles über Patroklos' Tod, welche dem Inhalte nach ganz lyrisch behandelt sein könnten, gehen dennoch nicht aus dem epischen Tone heraus, und ebensowenig fällt Homer in Situationen, die sich für dramatische Darstellung eignen würden, wie z. B. der Streit des Agamemnon und Achill im Rate der Fürsten oder der Abschied Hektors und Andromaches, irgend in den dramatischen Stil. Nehmen wir z. B. die letztere Szene, so gehört sie zum Schönsten, was die epische Poesie irgend zu geben imstande ist. Selbst in Schillers Wechselgesang der Amalie und des Karl in den Räubern, wo derselbe Gegenstand ganz lyrisch behandelt sein soll, klingt noch ein epischer Ton aus der Ilias nach. Zu welch epischer Wirkung aber beschreibt Homer im sechsten Buch der Ilias, wie Hektor Andromache im Hause vergeblich aufsucht und sie dann erst auf dem Wege am Skäischen Tore findet, wie sie ihm entgegeneilt, neben ihn tritt und zu ihm, der mit stillem Lächeln sein Knäblein auf dem Arme der Wärterin anblickt, sagt: "Wunderbarer, verderben wird dich dein Mut, und du erbarmst dich weder des unmündigen Knaben noch meiner, der Unglücklichen, die bald Witwe sein wird von dir; denn bald töten werden dich die Achäer, zusamt einstürmend: mir aber wäre es besser, habe ich dich verloren, unter die Erde zu gehn. Nicht bleibt mir ein anderer Trost, wenn auch du dem Schicksal erlegen, als Leiden!
Weder den Vater habe ich mehr noch die hohe Mutter." Und nun erzählt sie weitläufig den Hergang von ihres Vaters und der sieben Brüder Tode, die ihr alle Achilles erschlug; von der Mutter Gefangenschaft, Auslösung und Ende. Dann erst wendet sie sich wieder mit eindringlicher Bitte zu Hektor, der ihr nun Vater und Mutter ist, Bruder und blühender Gatte, und fleht ihn an, auf dem Turme zu bleiben und nicht den Knaben zur Waise und sie, die Gattin, zur Witwe zu machen. Ganz in der ähnlichen Art antwortet ihr Hektor: "Auch ich, um dies alles bin ich besorgt, o Weib, aber zu sehr scheue ich die Troer, wenn ich hier als ein Feiger die Schlacht vermiede; auch nicht die Wallung des Augenblicks treibt mich, da ich gewohnt bin, immer tapfer zu sein und unter den vordersten Troern zu kämpfen, schirmend zugleich den hohen Ruhm des Vaters und den meinen. Wohl zwar weiß ich es in Sinn und Gemüt, kommen werde der Tag, an welchem das heilige Ilion fällt und Priamos und das Volk des lanzenkundigen Königs. Aber nicht um der Troer Leid sorg ich soviel noch um Hekubas selber und des Priamos noch der leiblichen Brüder, die in den Staub fallen werden unter den Feinden, als um dich, wenn dich Weinende ein erzumschienter Achäer wegführt, den Tag dir der Freiheit raubend, und du in Argos an dem Rocken einer anderen spinnst oder mühsam Wasser trägst, widerwillig, aber die mächtige Notwendigkeit über dir liegt und dann wohl einer sagt, dich sehend, die Weinende: dies ist Hektors Weib, des tapfersten Kämpfers unter den Troern, als um Ilion gestritten ward. So spricht vielleicht irgendwer, und dich wird dann das Weh befallen, daß du solch eines Mannes entbehrst, der von dir die Knechtschaft abwehrte. Mich aber möge die Erde verbergen, eh ich von deinem Geschrei und deinem Wegführen höre."
Was Hektor hier sagt, ist empfindungsreich, rührend, doch nicht in lyrischer Weise nur oder in dramatischer, sondern episch, weil das Bild der Leiden, welches er entwirft und das ihm selber wehe tut, einerseits die Umstände, das rein Objektive darstellt, während andererseits das, was ihn treibt und bewegt, nicht als persönliches Wollen, als subjektiver Entschluß erscheint, sondern als eine Notwendigkeit, die gleichsam nicht sein eigener Zweck und Wille ist. Von ähnlich epischer Rührung sind auch die Bitten, mit welchen Besiegte in umständlichen Angaben und mit Gründen die siegenden Helden um ihr Leben anflehen; denn eine Bewegung des Gemüts, die nur aus den Umständen herfließt und nur durch Motive der objektiven Verhältnisse und Situationen zu rühren unternimmt, ist nicht dramatisch, obschon neuere Tragiker sich hin und wieder auch dieser Wirkungsart bedient haben. Die Szene auf dem Schlachtfelde z. B. in Schillers Jungfrau von Orleans zwischen dem englischen Ritter Montgomery und Johanna (2. Akt, 6. Szene) ist, wie schon andere richtig bemerkt haben, mehr episch als dramatisch. Den Ritter verläßt in der Stunde der Gefahr sein ganzer Mut, und dennoch vermag er, gedrängt von dem ergrimmten Talbot, der die Feigheit mit dem Tode straft, und der Jungfrau, welche auch die Tapfersten besiegt, nicht die Flucht zu ergreifen. Oh, ruft er aus,

Wär ich nimmer über Meer hierher geschifft,
Ich Unglücksel'ger! Eitler Wahn betörte mich,
Wohlfeilen Ruhm zu suchen in dem Frankenkrieg,
Und jetzo führt mich das verderbliche Geschick
In diese blut'ge Mordschlacht. - Wär ich weit von hier
Daheim noch an der Savern' blühendem Gestad
Im sichern Vaterhause, wo die Mutter mir
In Gram zurückblieb und die zarte, süße Braut. 

Dies sind unmännliche Äußerungen, welche die ganze Figur des Ritters weder für das eigentliche Epos noch für die Tragödie passend machen, sondern sie mehr in die Komödie verweisen. Als nun Johanna mit dem Ausruf:

Du bist des Todes! Eine brit'sche Mutter zeugte dich -

auf ihn zuschreitet, wirft er Schwert und Schild fort und fleht zu ihren Füßen um sein Leben. Die Gründe sodann, welche er, um sie zu bewegen, weitläufig ausführt: seine Wehrlosigkeit; der Reichtum des Vaters, der ihn mit Golde auslösen werde; die Milde des Geschlechts, zu welchem Johanna als Jungfrau gehöre; die Liebe der süßen Braut, die weinend daheim der Wiederkehr des Geliebten harre; die jammervollen Eltern, die er zu Haus verlassen; das schwere Schicksal, in der Fremde unbeweint zu sterben - alle diese Motive betreffen einerseits an sich selber schon objektive Verhältnisse, die Wert und Gültigkeit haben, andererseits ist die ruhige Exposition derselben epischer Art. In der gleichen Weise motiviert der Dichter den Umstand, daß Johanna ihn anhören muß, äußerlich durch die Wehrlosigkeit des Bittenden, während sie ihn doch, dramatisch genommen, gleich beim ersten Anblick ohne Zögern töten müßte, da sie als unrührbare Feindin aller Engländer auftritt und diesen verderbenbringenden Haß mit großer Rhetorik ausspricht und dadurch rechtfertigt, daß sie dem Geisterreiche durch den furchtbar bindenden Vertrag verpflichtet sei,

Mit dem Schwert zu töten alles Lebende, das mir
Der Schlachten Gott verhängnisvoll entgegenschickt.

Käme es ihr nur darauf an, daß Montgomery nicht unbewaffnet sterben solle, so hätte er, da sie ihn so lange schon angehört hat, das beste Mittel, am Leben zu bleiben, in seinen Händen: er brauchte nur nicht wieder zu den Waffen zu greifen. Doch auf ihre Aufforderung, mit ihr, der selber Sterblichen, um des Lebens süße Beute zu kämpfen, faßt er das Schwert wieder und fällt von ihrem Arm. Dieser Fortgang der Szene, ohne die breiten epischen Explikationen, würde sich besser schon für das Drama eignen. 

γγ) Im allgemeinen nun drittens können wir die Art des poetischen Verlaufs epischer Begebnisse sowohl in bezug auf die äußere Breite, zu welcher die nähere Veranschaulichung nötigt, als auch in Rücksicht auf das Vorschreiten zu dem Endresultat der Handlung besonders der dramatischen Poesie gegenüber so charakterisieren, daß die epische Darstellung nicht nur überhaupt beim Ausmalen der objektiven Realität und inneren Zustände verweilt, sondern außerdem der endlichen Auflösung Hemmungen entgegenstellt. Hierdurch vornehmlich leitet sie von der Durchführung des Hauptzweckes, dessen konsequent sich fortentwickelnden Kampf der dramatische Dichter nie darf aus den Augen verlieren, nach vielen Seiten hin ab und erhält damit eben die Gelegenheit, uns die Totalität einer Welt von Zuständen vor Augen zu bringen, welche sonst nicht zur Sprache kommen könnte.
Mit solch einem Hemmnis überhaupt z. B. beginnt die Ilias, insofern Homer gleich von der tödlichen Krankheit erzählt, welche Apollo im Lager der Griechen hat ausbrechen lassen, und daran nun den Streit des Achill und Agamemnon knüpft. Dieser Zorn ist das zweite Hemmnis.
Mehr noch ist in der Odyssee jedes Abenteuer, das Ulysses bestehen muß, eine Verzögerung der Heimkehr. Besonders aber dienen die Episoden zur Unterbrechung des unmittelbaren Fortgangs und sind größtenteils hemmender Art. So z. B. der Schiffbruch des Äneas, die Liebe zur Dido, das Auftreten der Armida bei Vergil und Tasso sowie in dem romantischen Epos überhaupt die vielen selbständigen Liebesabenteuer der einzelnen Helden, welche bei Ariosto sogar zu einer so bunten Mannigfaltigkeit sich anhäufen und durcheinanderschlingen, daß dadurch der Kampf der Christen und Sarazenen ganz verdeckt wird. In Dantes Göttlicher Komödie treten zwar keine ausdrücklichen Hindernisse für den Fortgang ein, aber hier liegt das episch langsame Vorschreiten teils überhaupt in der überall sich aufhaltenden Schilderung, teils in den vielen kleinen episodischen Geschichten und Besprechungen mit einzelnen Verdammten usf., von denen der Dichter einen genaueren Bericht erstattet.

In dieser Rücksicht ist es nun aber vor allem notwendig, daß dergleichen Hindernisse, welche sich dem zum Ziele voreilenden Gange in den Weg legen, sich nicht als bloße zu äußeren Zwecken angewendete Mittel zu erkennen geben. Denn wie schon der allgemeine Zustand, auf dessen Boden die epische Welt sich bewegt, nur dann wahrhaft poetisch ist, wenn er sich von selber gemacht zu haben scheint, so muß auch der ganze Verlauf durch die Umstände und das ursprüngliche Schicksal um so mehr wie von selber entstehen, ohne daß man dabei die subjektiven Absichten des Dichters herausmerkt, je mehr gerade die Form der Objektivität, sowohl nach seiten der realen Erscheinung als auch in betreff auf das Substantielle des Gehalts, dem Ganzen wie den einzelnen Teilen den Anspruch zuteilt, durch sich und für sich selber dazusein. Steht aber eine leitende Götterwelt an der Spitze, deren Hand die Begebnisse lenkt, so ist besonders in diesem Falle wieder für den Dichter selbst ein noch frischer, lebendiger Götterglaube nötig, da es meistens die Götter sind, durch welche dergleichen Hindernisse hervorgerufen werden, so daß nun also, wo diese Mächte nur als leblose Maschinerie gehandhabt sind, auch das, was von ihnen ausgeht, zu einem absichtlichen bloßen Machwerk des Dichters herabsinken muß.

γ) Nachdem wir nun die Totalität der Gegenstände kurz berührt haben, welche das Epos durch Verwebung einer besonderen Begebenheit mit einem allgemeinen nationalen Weltzustande entfalten kann, und sodann zur Entwicklungsweise im Verlauf der Ereignisse fortgegangen sind, fragt es sich drittens nur noch nach der Einheit und Abrundung des epischen Werks.    >>>

 

>Einheit und Abrundung des epischen Werks.

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