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<<<Das Epos als einheitsvolle Totalität [ Einheit und Abrundung des epischen Werks. ]
γ) Nachdem wir nun die Totalität der Gegenstände kurz berührt haben, welche das Epos durch Verwebung einer besonderen Begebenheit mit einem allgemeinen nationalen Weltzustande entfalten kann, und sodann zur Entwicklungsweise im Verlauf der Ereignisse fortgegangen sind, fragt es sich drittens nur noch nach der Einheit und Abrundung des epischen Werks.
αα) Dies ist ein Punkt, der, wie ich früher bereits andeutete, jetzt um so wichtiger ist, als man neuerdings der Vorstellung hat Raum geben wollen, man könne ein Epos sich beliebig enden lassen oder es fortsingen, wie man wolle. Obschon diese Ansicht von geistvollen und gelehrten Männern wie z. B. von F. A. Wolf verfochten worden ist, so bleibt sie dennoch nicht weniger roh und barbarisch, da sie in der Tat nichts anderes als den schönsten epischen Gedichten den eigentlichen Charakter von Kunstwerken absprechen heißt. Denn nur dadurch, daß ein Epos eine total in sich beschlossene und hiermit erst selbständige Welt schildert, ist es überhaupt ein Werk der freien Kunst, im Unterschiede der teils zerstreuten, teils in einem endlosen Verlaufe von Abhängigkeiten*) , Ursachen, Wirkungen und Folgen sich fortziehenden Wirklichkeit. Freilich kann man so viel zugeben, daß für das eigentliche, ursprüngliche Epos die rein ästhetische Beurteilung des Planes und der Organisation der Teile, der Stellung und Fülle der Episoden, der Art der Gleichnisse usf. nicht die Hauptsache sei, indem hier mehr als in der späteren Lyrik und kunstreichen dramatischen Ausbildung die Weltanschauung, der Götterglaube, überhaupt das Gehaltvolle solcher Volksbibeln als die überwiegende Seite muß angesprochen werden. Dessenungeachtet aber dürfen auch die nationalen Grundbücher wie der Ramajana, die Ilias und Odyssee und selbst das Lied von den Nibelungen darüber nicht dasjenige verlieren, was allein in Rücksicht auf Schönheit und Kunst ihnen die Würde und Freiheit von Kunstwerken geben kann, daß sie uns nämlich ein abgerundetes Ganzes von Handlung vor die Anschauung bringen. Es ist daher wesentlich nur darum zu tun, die begriffsmäßige Art dieser Abgeschlossenheit aufzufinden.
ββ) "Einheit", so ganz im allgemeinen genommen, ist auch für die Tragödie ein trivial gewordenes Wort, das zu vielen Mißbräuchen verleiten kann. Denn jede Begebenheit geht in ihren Veranlassungen und Folgen ins Unendliche fort und leitet sich nach seiten der Vergangenheit wie der Zukunft ganz ebenso unberechenbar an einer Kette von besonderen Umständen und Taten weiter, als es sich nicht bestimmen läßt, was alles von Zuständen und sonstigen Einzelheiten darein eintreten und als damit zusammenhängend angesehen werden soll. Nimmt man nur auf diese Reihenfolge Rücksicht, dann freilich läßt sich ein Epos nach rückwärts und vorwärts immer fortsingen und gibt außerdem zu Einschiebseln die stets offenstehende Gelegenheit. Solche Reihenfolge aber macht gerade das Prosaische aus. Um ein Beispiel anzuführen, so haben die zyklischen Dichter bei den Griechen den ganzen Umkreis des Trojanischen Krieges besungen und deshalb da fortgefahren, wo Homer aufhört, und vom Ei der Leda wieder angefangen; doch eben um deswegen schon sind sie, den Homerischen Gedichten gegenüber, prosaischer geworden. Ebensowenig, wie ich bereits oben sagte, kann ein Individuum als solches den alleinigen Mittelpunkt abgeben, weil von diesem die mannigfaltigsten Ereignisse ausgehen und demselben begegnen können, ohne untereinander irgend als Begebenheiten in Zusammenhang zu stehen. Wir haben uns daher nach einer anderen Art der Einheit umzublicken. In dieser Hinsicht müssen wir kurz den Unterschied zwischen einem bloßen Geschehen und einer bestimmten Handlung, welche, episch erzählt, die Form der Begebenheit annimmt, feststellen. Ein bloßes Geschehen ist schon die Außenseite und Realität jedes menschlichen Tuns zu nennen, ohne daß darin die Ausführung eines besonderen Zweckes zu liegen braucht, überhaupt jede äußere Veränderung in der Gestalt und Erscheinung dessen, was da ist. Wenn der Blitz einen Menschen erschlägt, so ist dies ein bloßes Geschehen, ein äußerer Vorfall; in der Eroberung einer feindlichen Stadt aber liegt mehr, die Erfüllung nämlich eines beabsichtigten Zweckes. Solch ein in sich selbst bestimmter Zweck nun, wie die Befreiung des Heiligen Landes von dem Joche der Sarazenen und Heiden, oder besser noch die Befriedigung eines besonderen Triebes, wie z. B. der Zorn des Achilles, muß in Gestalt epischer Begebenheit die zusammenhaltende Einheit der Epopöe bilden, insofern nur das vom Dichter erzählt wird, was von diesem selbstbewußten Zwecke oder dem bestimmten Triebe die eigene Wirkung ist und sich deshalb mit ihm zu einer in sich geschlossenen Einheit abrundet. Handeln und sich durchsetzen aber kann nur der Mensch, so daß von dieser Seite her das mit dem Zweck und Trieb verwachsene Individuum an der Spitze steht. Tritt nun ferner die Handlung und Befriedigung des ganzen Heldencharakters, aus welchem Zweck und Trieb herfließen, nur unter ganz bestimmten Situationen und Veranlassungen heraus, welche zu einem weiten Zusammenhange rückwärts auseinandergehen, und hat die Ausführung des Zweckes wiederum nach vorwärts mancherlei Folgen, so ergeben sich hieraus allerdings für die bestimmte Handlung einerseits mannigfaltige Voraussetzungen und andererseits vielfache Nachwirkungen, welche aber mit der Bestimmtheit gerade dieses dargestellten Zweckes in keinem näheren poetischen Zusammenhange stehen. In diesem Sinne hat z. B. der Zorn des Achilles auf den Raub der Helena oder das Urteil des Paris, obschon das eine dem anderen als Voraussetzung vorangegangen war, ebensowenig Bezug als auf die wirkliche Eroberung Trojas. Wenn daher behauptet wird, die Ilias habe weder einen notwendigen Anfang noch den gehörigen Schluß, so liegt hierin nur der Mangel an der bestimmten Einsicht, daß es der Zorn des Achilles sei, der in der Ilias besungen werden und deshalb den Einheitspunkt liefern solle. Faßt man dagegen die Gestalt des Achilles fest ins Auge und stellt sie in ihrem durch Agamemnon aufgeregten Zorne als den Zusammenhalt des Ganzen auf, so ist Anfang und Ende nicht schöner zu erfinden. Denn die unmittelbare Veranlassung dieses Zorns macht, wie ich schon sagte, den Beginn, während die Folgen desselben in dem weiteren Verlauf enthalten sind. Hiergegen hat sich zwar die Meinung geltend zu machen versucht, daß dann die letzten Gesänge unnütz seien und ebensogut hätten fortbleiben mögen. Diese Ansicht aber erweist sich dem Gedichte gegenüber als durchaus unhaltbar, denn wie das Verweilen bei den Schiffen und Abstehen vom Kampf bei Achilles selbst nur eine Folge ist seines unwilligen Zornes und sich an diese Tatlosigkeit der bald errungene Vorteil der Troer über das Heer der Griechen sowie der Kampf und Tod des Patroklos knüpft, so ist auch mit diesem Fall seines tapferen Freundes die Klage und Rache des edlen Achilles und sein Sieg über Hektor eng verbunden. Glaubt man aber mit dem Tode schon sei alles aus und jetzt könne man weglaufen, so bezeugt dies nichts als eine Roheit der Vorstellung. Mit dem Tode ist nur die Natur fertig, nicht der Mensch, nicht die Sitte und Sittlichkeit, welche für die gefallenen Helden die Ehre der Bestattung fordert. So fügen sich allem Bisherigen die Spiele an Patroklos' Grabe, die erschütternden Bitten des Priamos, die Versöhnung des Achilles, der dem Vater den Leichnam des Sohns zurückgibt, damit auch diesem die Ehre der Toten nicht fehle, zum schönsten Abschlusse befriedigend an.
γγ) Indem wir nun aber eine bestimmte, aus bewußten Zwecken oder Heldentrieben hervorgegangene individuelle Handlung in der angeführten Weise zu dem machen wollen, worin das epische Ganze die Haltpunkte für seinen Zusammenhang und seine Abrundung finden soll, so kann es scheinen, daß wir dadurch die epische Einheit allzu nahe gegen die dramatische hinrücken. Denn auch im Drama macht eine aus selbstbewußtem Zweck und Charakter entsprungene besondere Handlung und deren Konflikt den Mittelpunkt aus. Um deshalb nicht beide Dichtarten, die epische und dramatische, wenn auch nur scheinbar zu verwechseln, will ich ausdrücklich noch einmal auf das wieder zurückweisen, was ich früher schon über den Unterschied von Handlung und Begebenheit gesagt habe. Außerdem beschränkt sich das epische Interesse nicht nur auf diejenigen Charaktere, Zwecke und Situationen, welche in der besonderen Handlung als solcher, deren Verlauf das Epos erzählt, begründet sind, sondern diese Handlung findet den weiteren Anlaß zu ihrer Kollision und Lösung sowie ihren ganzen Vorgang nur innerhalb einer nationalen Gesamtheit und deren substantieller Totalität, welche nun auch ihrerseits das volle Recht hat, eine Mannigfaltigkeit von Charakteren, Zuständen und Ereignissen mit in die Darstellung hineintreten zu lassen. In dieser Rücksicht liegt die Abrundung und Ausgestaltung des Epos nicht nur in dem besonderen Inhalt der bestimmten Handlung, sondern ebensosehr in der Totalität der Weltanschauung, deren objektive Wirklichkeit sie zu schildern unternimmt; und die epische Einheit ist in der Tat erst dann vollendet, wenn die besondere Handlung einerseits für sich beschlossen, andererseits aber in ihrem Verlaufe auch die in sich totale Welt, in deren Gesamtkreis sie sich bewegt, in voller Totalität zur Anschauung gebracht ist und beide Hauptsphären dennoch in lebendiger Vermittlung und ungestörter Einheit bleiben.
Dies sind die wesentlichsten Bestimmungen, welche sich in der Kürze in betreff auf das eigentliche Epos hinstellen lassen. Dieselbe Form der Objektivität nun aber ist auf andere Gegenstände angewendet worden, deren Gehalt nicht die wahre Bedeutung echter Objektivität in sich trägt. Mit dergleichen Nebenarten kann man den Theoretiker in Verlegenheit setzen, wenn von ihm verlangt wird, er solle Einteilungen machen, worein alle Gedichte - und Gedicht sei auch alles das, was diesen Halbarten zuzurechnen ist - ohne Unterschied paßten. In einer wahrhaften Einteilung jedoch kann nur das Platz gewinnen, was einer Begriffsbestimmung gemäß ist; was sich dagegen unvollkommen an Inhalt oder an Form oder an beiden zugleich erweist, läßt sich, weil es eben nicht ist, wie es sein soll, nur schlecht unter den Begriff, d. h. unter die Bestimmung bringen, wie die Sache sein soll und der Wahrheit nach wirklich ist. Von dergleichen untergeordneten Nebenzweigen des eigentlich Epischen will ich deshalb zum Schlusse nur noch anhangsweise einiges beifügen.
Vor allem gehört hierher die Idylle in dem modernen Sinne des Worts, in welchem sie von allen tieferen allgemeinen Interessen des geistigen und sittlichen Lebens absieht und den Menschen in seiner Unschuld darstellt. Unschuldig leben heißt hier aber nur: von nichts wissen als von Essen und Trinken, und zwar von sehr einfachen Speisen und Getränken, zum Exempel von Ziegenmilch, Schafmilch und zur Not höchstens von Kuhmilch, von Kräutern, Wurzeln, Eicheln, Obst, Käse aus Milch - Brot, glaube ich, ist schon nicht mehr recht idyllisch -, doch muß Fleisch schon eher erlaubt sein, denn ganz werden die idyllischen Schäfer und Schäferinnen ihr Vieh doch nicht den Göttern haben opfern wollen. Ihre Beschäftigung nun besteht darin, diesem lieben Vieh mit dem treuen Hunde den ganzen lieben Tag lang aufzupassen, für Speise und Trank zu sorgen und nebenher mit so vieler Sentimentalität als möglich solche Empfindungen zu hegen und zu pflegen, welche diesen Zustand der Ruhe und Zufriedenheit nicht stören, d. h. in ihrer Art fromm und zahm zu sein, auf der Schalmei, der Rohrpfeife usf. zu blasen oder sich etwas vorzusingen und vornehmlich einander in größter Zartheit und Unschuld liebzuhaben. - Die Griechen dagegen hatten in ihren plastischen Darstellungen eine lustigere Welt: das Gefolge des Bacchus, Satyrn, Faune, welche, harmlos um einen Gott bemüht, die tierische Natur in einer ganz anderen Lebendigkeit und Wahrheit zu menschlichem Frohsinn steigern als jene prätentiöse Unschuld, Frömmigkeit und Leerheit. Derselbe Kern lebendiger Anschauung bei frischen Vorbildern nationaler Zustände läßt sich auch noch in den griechischen Bukolikern, in Theokrit z. B., erkennen, sei es nun, daß er sich bei wirklichen Situationen des Fischer- und Hirtenlebens verweilt oder die Ausdrucksweise dieser oder ähnlicher Kreise auch auf weitere Gegenstände überträgt und dergleichen Lebensbilder nun entweder episch schildert oder in lyrischer und äußerlich dramatischer Form behandelt. Kahler schon ist Vergil in seinen Eklogen, am langweiligsten aber Geßner, so daß ihn wohl niemand heutigentags mehr liest und es nur zu verwundern ist, daß die Franzosen jemals so viel Geschmack an ihm gefunden haben, daß sie ihn für den höchsten deutschen Dichter halten konnten. Doch mag wohl einerseits ihre Empfindsamkeit, welche das Gewühl und die Verwicklungen des Lebens floh und dennoch irgendeine Bewegung verlangte, andererseits die vollkommene Ausleerung von allen wahren Interessen, so daß die sonstigen störenden Verhältnisse unserer Bildung nicht eintraten, das Ihrige zu dieser Vorliebe beigetragen haben.
Nach einer anderen Seite lassen sich zu diesen Zwitterarten die halb beschreibenden, halb lyrischen Gedichte zählen, wie sie bei den Engländern beliebt waren und hauptsächlich die Natur, die Jahreszeiten usf. zum Gegenstand nehmen. Auch die mannigfaltigen Lehrgedichte, Kompendien der Physik, Astronomie, Medizin, des Schachspiels, der Fischerei, Jagd, Kunst zu lieben, mit prosaischem Inhalt in dichterisch verzierender Einfassung, wie sie schon in der späteren griechischen Poesie und dann bei den Römern und neuerdings vornehmlich bei den Franzosen sehr kunstreich sind ausgearbeitet worden, gehören in dieses Bereich. Sie können gleichfalls, des epischen, allgemeinen Tones ungeachtet, leicht in die lyrische Behandlung herübergezogen werden.
Poetischer freilich, doch ohne festen Gattungsunterschied, sind die Romanzen und Balladen, Produkte des Mittelalters und der modernen Zeit, dem Inhalte nach zum Teil episch, der Behandlung nach dagegen meist lyrisch, so daß man sie bald der einen, bald der anderen Gattung zurechnen möchte.
Ganz anders verhält es sich dagegen mit dem Roman, der modernen bürgerlichen Epopöe. Hier tritt einerseits der Reichtum und die Vielseitigkeit der Interessen, Zustände, Charaktere, Lebensverhältnisse, der breite Hintergrund einer totalen Welt sowie die epische Darstellung von Begebenheiten vollständig wieder ein. Was jedoch fehlt, ist der ursprünglich poetische Weltzustand, aus welchem das eigentliche Epos hervorgeht. Der Roman im modernen Sinne setzt eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit voraus, auf deren Boden er sodann in seinem Kreise - sowohl in Rücksicht auf die Lebendigkeit der Begebnisse als auch in betreff der Individuen und ihres Schicksals - der Poesie, soweit es bei dieser Voraussetzung möglich ist, ihr verlorenes Recht wieder erringt. Eine der gewöhnlichsten und für den Roman passendsten Kollisionen ist deshalb der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse sowie dem Zufalle äußerer Umstände: ein Zwiespalt, der sich entweder tragisch und komisch löst oder seine Erledigung darin findet, daß einerseits die der gewöhnlichen Weltordnung zunächst widerstrebenden Charaktere das Echte und Substantielle in ihr anerkennen lernen, mit ihren Verhältnissen sich aussöhnen und wirksam in dieselben eintreten, andererseits aber von dem, was sie wirken und vollbringen, die prosaische Gestalt abstreifen und dadurch eine der Schönheit und Kunst verwandte und befreundete Wirklichkeit an die Stelle der vorgefundenen Prosa setzen. - Was die Darstellung angeht, so fordert auch der eigentliche Roman wie das Epos die Totalität einer Welt- und Lebensanschauung, deren vielseitiger Stoff und Gehalt innerhalb der individuellen Begebenheit zum Vorschein kommt, welche den Mittelpunkt für das Ganze abgibt. In bezug auf das Nähere jedoch der Auffassung und Ausführung muß dem Dichter hier um so mehr ein großer Spielraum gestattet sein, je weniger er es zu vermeiden vermag, auch die Prosa des wirklichen Lebens mit in seine Schilderungen hineinzuziehen, ohne dadurch selber im Prosaischen und Alltäglichen stehenzubleiben.
*) so in der 1. Auflage gegenüber "Unabhängigkeiten" in der 2. Auflage
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