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Inhalt - Übersicht

Einleitung

Erster Teil.
Die Idee des Kunstschönen oder das Ideal

Stellung der Kunst im Verhältnis zur endlichen Wirklichkeit und zur Religion und Philosophie

Zweiter Teil. Entwicklung des Ideals zu den besonderen Formen des Kunstschönen

Dritter Teil.
Das System der einzelnen Künste

Vom “Ende der Kunst” >

Wie nun aber die Kunst in der Natur und den endlichen Gebieten des Lebens ihr Vor hat, ebenso hat sie auch ein Nach, ...  >>>

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Vorlesungen über die Ästhetik
                          
(1835-1838)                                                              

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a. Stoff für die Individualisierung [der einzelnen Individualität der Götter]

Da entsteht nun sogleich die Frage: wo kommt der Stoff für diese einzelne Erscheinungsweise der Götter her, wie schreiten sie in ihrer Partikularisierung weiter vorwärts?
Für ein wirkliches menschliches Individuum, für seinen Charakter, aus welchem es Handlungen vollbringt, für die Begebenheiten, in welche es verflochten, für das Schicksal, von dem es betroffen wird, geben die äußerlichen Umstände, die Zeit der Geburt,
die angeborenen Anlagen, Eltern, Erziehung, Umgebung, Zeitverhältnisse, das ganze Bereich relativer innerer und äußerer Zustände das nähere positive Material ab.
Diesen Stoff enthält die vorhandene Welt, und die Lebensbeschreibungen einzelner Menschen werden nach dieser Seite hin jedesmal von der größten individuellen Verschiedenheit sein. Anders jedoch ist es mit den freien Göttergestalten, welche kein Dasein in der konkreten Wirklichkeit haben, sondern aus der Phantasie entsprungen sind.
Deshalb könnte man nun aber glauben, die Dichter und Künstler, die überhaupt das Ideal aus freiem Geist erschaffen, nähmen den Stoff für die zufälligen Einzelheiten nur aus der subjektiven Willkür der Einbildungskraft. Diese Vorstellung jedoch ist falsch. Denn wir gaben der klassischen Kunst überhaupt die Stellung, daß sie sich erst durch Reaktion gegen die zu ihrem eigenen Bezirk notwendig gehörigen Voraussetzungen zu dem heraufbilde, was sie als echtes Ideal ist. Aus diesen Voraussetzungen schreiben sich die speziellen Besonderheiten her, welche den Göttern ihre nähere individuelle Lebendigkeit verschaffen. Die Hauptmomente dieser Voraussetzungen sind bereits angeführt, und wir haben hier nur kurz an das Frühere zu erinnern.

α) Die zunächstliegende reichhaltige Quelle machen die symbolischen Naturreligionen aus, welche der griechischen Mythologie zu der in ihr umgewandelten Grundlage dienen. Indem nun aber dergleichen entlehnte Züge hier den als geistige Individuen dargestellten Göttern zugeteilt werden, müssen sie wesentlich den Charakter, als Symbole zu gelten, verlieren; denn sie dürfen jetzt nicht mehr eine Bedeutung behalten, welche verschieden von dem wäre, was das Individuum selber ist und zur Erscheinung bringt. Der früher symbolische Inhalt wird deshalb jetzt zum Inhalte eines göttlichen Subjektes selbst, und da er nicht das Substantielle des Gottes betrifft, sondern nur die mehr beiläufige Partikularität, so sinkt solcher Stoff zu einer äußerlichen Geschichte, einer Tat oder Begebenheit herunter, welche dem Willen der Götter in dieser oder jener besonderen Lage zugeschrieben wird.
So treten hier alle die symbolischen Traditionen früherer heiliger Dichtungen wieder herein und nehmen, zu Handlungen einer subjektiven Individualität umgewandelt, die Form menschlicher Begebnisse und Geschichten an, welche sich mit den Göttern sollen zugetragen haben und nicht nur von den Dichtern beliebig etwa dürfen erfunden werden.
Wenn Homer z. B. von den Göttern erzählt, sie seien ausgereist, bei den unsträflichen Äthiopiern zwölf Tage lang zu schmausen, so wäre dies als bloße Phantasie des Dichters eine armselige Erfindung. Auch mit der Erzählung von der Geburt Jupiters verhält es sich so.
Kronos, heißt es, hatte alle seine Kinder, die er gezeugt, wieder verschlungen,
so daß nun Rhea, seine Gemahlin, als sie mit Zeus, dem jüngsten, schwanger ging, sich gen Kreta hinwandte, dort den Sohn gebar, dem Kronos jedoch statt des Kindes einen Stein zu verschlingen gab, den sie in Felle gewickelt hatte. Später dann bricht Kronos alle Kinder wieder aus, die Tochter und auch den Poseidon.
Diese Geschichte, als subjektive Erfindung, wäre läppisch; es blicken aber die Reste symbolischer Bedeutungen hindurch, welche jedoch, weil sie ihren symbolischen Charakter verloren haben, als bloß äußerliches Begebnis erscheinen. Ähnlich geht es mit der Geschichte der Ceres und Proserpina. Hier ist die alte symbolische Bedeutung das Verlorengehen und Aufkeimen des Samenkorns. Die Mythe stellt dies so vor, als habe Proserpina in einem Tale mit Blumen gespielt und die duftende Narzisse gepflückt, welche aus einer Wurzel hundert Blüten trieb. Da erbebt die Erde, Pluto steigt aus dem Boden empor, hebt die Jammernde in seinen goldenen Wagen und führt sie zur Unterwelt. Nun wandelt Ceres im Mutterschmerz lange vergeblich über die Erde hin. Endlich kehrt Proserpina zur Oberwelt zurück, doch Zeus hat hierzu nur unter dem Vorbehalt Erlaubnis gegeben, daß Proserpina noch nicht solle von der Nahrung der Götter genossen haben. Leider jedoch hatte sie in Elysium einmal einen Granatapfel gegessen und durfte deshalb nur den Frühling und Sommer hindurch auf der Oberwelt zubringen. - Auch hier hat die allgemeine Bedeutung nicht ihre symbolische Gestalt behalten, sondern ist zu einer menschlichen Begebenheit umgearbeitet, welche den allgemeinen Sinn nur von fernher durch die vielen äußerlichen Züge hindurchscheinen läßt.
- In derselben Weise deuten auch die Beinamen der Götter häufig auf dergleichen symbolische Grundlagen hin, die aber ihre symbolische Form abgestreift haben und nur noch dazu dienen, der Individualität eine vollere Bestimmtheit zu geben.

β) Eine andere Quelle für die positiven Partikularitäten der einzelnen Götter geben die lokalen Beziehungen ab, sowohl in betreff auf den Ursprung der Vorstellungen von den Göttern als auch auf die Ankunft und Einführung ihres Dienstes und auf die verschiedenen Orte, an welchen sie vornehmlich ihre Verehrung fanden.

αα) Obschon daher die Darstellung des Ideals und seiner allgemeinen Schönheit sich über die besondere Lokalität und deren Eigentümlichkeit erhoben und die einzelnen Äußerlichkeiten in der Allgemeinheit der Kunstphantasie zu einem der substantiellen Bedeutung schlechthin entsprechenden Totalbilde zusammengezogen hat, so spielen doch, wenn die Skulptur die Götter ihrer Einzelheit nach nun auch in gesonderte Beziehungen und Verhältnisse bringt, diese partikularen Züge und lokalen Farben immer wieder durch, um von der Individualität etwas, obschon nur äußerlich Bestimmteres, anzugeben. Wie Pausanias z. B. eine Menge solcher lokalen Vorstellungen, Bildnereien, Gemälde, Sagen anführt, die er in Tempeln, an öffentlichen Orten, in Tempelschätzen, in Gegenden, wo etwas Wichtiges vorgefallen war, gesehen oder sonst zur Erfahrung gebracht hat, ebenso laufen nach dieser Seite hin in den griechischen Mythen die alten, aus der Fremde erhaltenen Traditionen und Lokale mit den einheimischen durcheinander, und allen ist mehr oder weniger eine Beziehung auf die Geschichte, Entstehung, Stiftung der Staaten, besonders durch Kolonisation, gegeben. Indem nun aber dieser vielfache spezielle Stoff in der Allgemeinheit der Götter seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat,
so kommen dadurch Geschichten heraus, die bunt, kraus und für uns ohne Sinn bleiben.
So gibt z. B. Aischylos in seinem Prometheus die Irrungen der Io in ihrer ganzen Härte und Äußerlichkeit wie ein steinernes Basrelief, ohne auf eine sittliche, völkergeschichtliche oder Naturdeutung anzuspielen. Ähnlich verhält es sich mit dem Perseus, Dionysos usf., besonders aber mit Zeus, seinen Ammen, seinen Untreuen gegen die Hera, welche er gelegentlich dann auch, mit den Beinen an einen Amboß gehängt, zwischen Himmel und Erde schweben läßt. Auch in Herkules kommt der mannigfaltig bunteste Stoff zusammen, der dann in solchen Geschichten ein durchaus menschliches Ansehen in Weise zufälliger Begebenheiten, Taten, Leidenschaften, Unglücksfälle und sonstiger Vorfallenheiten annimmt.

ββ) Außerdem sind die ewigen Mächte der klassischen Kunst die allgemeinen Substanzen in der wirklichen Gestaltung des griechischen menschlichen Daseins und Handelns, von dessen ursprünglichen Nationalanfängen deshalb aus den Heroenzeiten und anderweitigen Traditionen her auch in späteren Tagen noch viele partikuläre Reste an den Göttern hängenbleiben.
So deuten denn auch viele Züge in den bunten Göttergeschichten gewiß auf historische Individuen, Heroen, ältere Volksstämme, natürliche Ereignisse und Vorfälle in Ansehung der Kämpfe, Kriege und anderweitiger Bezüglichkeiten hin.
Und wie die Familie, die Verschiedenheit der Stämme der Ausgangspunkt des Staats ist, so hatten die Griechen auch ihre Familiengötter, Penaten, Stammgötter und ebenso die schützenden Gottheiten der einzelnen Städte und Staaten.
In dieser Richtung auf das Historische ist nun aber die Behauptung aufgestellt, daß der Ursprung der griechischen Götter überhaupt aus solchen geschichtlichen Tatsachen, Heroen, alten Königen herzuleiten sei. Es ist dies eine plausible, aber flache Ansicht, wie sie auch Heyne noch wieder neuerdings in Umlauf gebracht hat. In einer analogen Weise hat ein Franzose, Nicolas Fréret 1) , als allgemeines Prinzip des Götterkrieges z. B. die Streitigkeiten verschiedener Priesterschaften angenommen. Daß solch ein geschichtliches Moment hereinspiele, daß bestimmte Stämme ihre Anschauungen vom Göttlichen geltend gemacht, daß gleichfalls die unterschiedenen Lokale Züge für die Individualisierung der Götter geliefert haben, ist allerdings zuzugeben; der eigentliche Ursprung aber der Götter liegt nicht in diesem äußerlichen geschichtlichen Material, sondern in den geistigen Mächten des Lebens, als welche sie gefaßt wurden, so daß dem Positiven, Lokalen, Historischen nur für die bestimmtere Ausführung der einzelnen Individualität ein breiterer Spielraum eingeräumt werden darf.

γγ) Indem nun ferner der Gott in die menschliche Vorstellung tritt und noch mehr durch die Skulptur in leiblicher, realer Gestalt dargestellt wird, zu welcher sich dann der Mensch im Kultus wieder in gottesdienstlichen Handlungen verhält, so ist auch durch diese Beziehung ein neues Material für den Kreis des Positiven und Zufälligen vorhanden. Welche Tiere z. B. oder Früchte jedem Gott geopfert werden, in welchem Aufzuge die Priester und das Volk erscheinen, in welcher Folge die besonderen Handlungen vor sich gehen, dies alles häuft sich zu den verschiedenartigsten einzelnen Zügen an.
Denn jede solche Handlung hat eine unendliche Menge Seiten und Äußerlichkeiten, die für sich zufällig so oder auch anders sein könnten, als einer heiligen Handlung zugehörig aber etwas Festes, nicht Willkürliches sein sollen und in die Sphäre des Symbolischen hinüberspielen. Hierherein fällt z. B. die Farbe der Kleidung, beim Bacchus die Weinfarbe, ebenso das Rehfell, in welches die in die Mysterien Einzuweihenden gehüllt wurden; auch die Kleidung und Attribute der Götter, der Bogen des pythischen Apollo, Peitsche, Stab und unzählige andere Äußerlichkeiten haben hier ihre Stelle. Dergleichen wird jedoch nach und nach eine bloße Gewohnheit; kein Mensch denkt bei Ausübung derselben mehr an den ersten Ursprung, und was wir etwa gelehrterweise als die Bedeutung aufzeigen könnten, ist dann eine bloße Äußerlichkeit, welche der Mensch aus unmittelbarem Interesse mitmacht, aus Scherz, Spaß, Genuß der Gegenwart, Andacht, oder weil es eben gebräuchlich, unmittelbar so festgesetzt ist und von anderen auch gemacht wird. Wenn bei uns z. B. die Jungen sommers das Johannisfeuer anzünden oder anderwärts springen, an die Fenster anwerfen, so ist das ein bloßer äußerlicher Brauch, bei dem sich die eigentliche Bedeutung ebensosehr in den Hintergrund gestellt hat als bei den Festtänzen der griechischen Jünglinge und Mädchen die Verschlingungen des Tanzes, deren Touren die verschränkten Bewegungen der Planeten, den labyrinthischen Irrgängen gleich, nachbildeten. Man tanzt nicht, um Gedanken dabei zu haben, sondern das Interesse beschränkt sich auf den Tanz und dessen geschmackvolle, zierliche Festlichkeit schöner Bewegung.
Die ganze Bedeutung, welche die ursprüngliche Grundlage ausmachte und wovon die Darstellung für das Vorstellen und sinnliche Anschauen symbolischer Art war, wird damit eine Phantasievorstellung überhaupt, deren Einzelheiten wir uns wie ein Märchen oder, wie in der Geschichtsschreibung, als Bestimmtheit der Äußerlichkeit in Zeit und Raum gefallen lassen und von denen nur gesagt wird: "es ist so" oder: "es heißt, man erzählt" usf. Das Interesse der Kunst kann deshalb nur darin bestehen, diesem zu positiver Äußerlichkeit gewordenen Stoffe eine Seite abzugewinnen und etwas daraus zu machen, was uns die Götter als konkrete, lebendige Individuen vor Augen stellt und an eine tiefere Bedeutung nur etwa noch anklingt.

Dies Positive gibt den griechischen Göttern, wenn die Phantasie es von neuem bearbeitet,
eben den Reiz der lebendigen Menschlichkeit, indem das sonst nur Substantielle und Mächtige dadurch in die individuelle Gegenwart, welche überhaupt aus dem zusammengesetzt ist,
was wahrhaft an und für sich und was äußerlich und zufällig ist, hineingerückt und das Unbestimmte, das sonst immer noch in der Vorstellung der Götter liegt, enger begrenzt und reicher erfüllt wird. Einen weiteren Wert aber dürfen wir den speziellen Geschichten und besonderen Charakterzügen nicht beilegen; denn dieses früher seinem ersten Ursprunge nach symbolisch Bedeutende hat jetzt nur noch die Aufgabe, die geistige Individualität der Götter gegen das Menschliche hin zur sinnlichen Bestimmtheit zu vollenden und ihr durch dies seinem Inhalt und seiner Erscheinung nach Ungöttliche die Seite der Willkür und Zufälligkeit, welche zum konkreten Individuum gehört, hinzuzufügen. Die Skulptur, insofern sie die reinen Götterideale zur Anschauung bringt und den Charakter und Ausdruck nur am lebendigen Körper darzustellen hat, wird die letzte äußerliche Individualisierung zwar am wenigsten sichtbar hervortreten lassen, doch macht sich dieselbe auch in diesem Gebiete geltend: wie der Kopfputz z. B., die Art des Haarwurfs, der Locken an jedem Gott verschieden ist, und nicht etwa bloß zu symbolischen Zwecken, sondern zur näheren Individualisierung. So hat z. B. Herkules kurze Locken, Zeus reichhaltig in die Höhe quellende, Diana eine andere Windung des Haars als Venus, Pallas die Gorgo auf dem Helm, und dies geht durch Waffen, Gürtel, Binden, Armspangen und die vielfältigsten Äußerlichkeiten in derselben Weise hindurch.

γ) Eine dritte Quelle nun endlich für die nähere Bestimmtheit erhalten die Götter durch ihr Verhältnis zu der vorhandenen konkreten Welt und deren mannigfache Naturerscheinungen, menschliche Taten und Begebenheiten. Denn wie wir die geistige Individualität zum Teil ihrem allgemeinen Wesen, zum Teil ihrer besonderen Einzelheit nach aus früheren symbolisch gedeuteten Naturgrundlagen und menschlichen Tätigkeiten haben hervorgehen sehen, so bleibt sie nun auch, als geistig für sich seiendes Individuum, in stets lebendiger Beziehung auf die Natur und das menschliche Dasein. Hier strömt, wie schon oben bereits ausgeführt ist,
die Phantasie des Dichters als die stets ergiebige Quelle für besondere Geschichten, Charakterzüge und Taten fort, welche von den Göttern berichtet werden.
Das Künstlerische dieser Stufe besteht darin, die Götterindividuen lebendig mit den menschlichen Handlungen zu verflechten und das Einzelne der Begebenheiten stets in die Allgemeinheit des Göttlichen zusammenzufassen; wie wir z. B. auch wohl, in anderem Sinne freilich, sagen dieses oder jenes Schicksal komme von Gott.
Schon in der gewöhnlichen Wirklichkeit nahm der Grieche
in den Verwicklungen seines Lebens, in seinen Bedürfnissen, Befürchtungen, Hoffnungen seine Zuflucht zu den Göttern. Da werden es zunächst äußerliche Zufälligkeiten, welche die Priester als Omina ansehen und in Rücksicht auf die menschlichen Zwecke und Zustände deuten.
Ist gar Not und Unglück vorhanden, so hat der Priester den Grund der Drangsal zu erklären, den Zorn und Willen der Götter zu erkennen und die Mittel anzugeben, wie dem Unglücke zu begegnen sei. Die Dichter nun gehen in ihren Auslegungen noch weiter, da sie zu großem Teil alles, was das allgemeine und wesentliche Pathos, die bewegende Macht in den menschlichen Entschließungen und Handlungen betrifft, den Göttern und deren Tun zuschreiben, so daß die Tätigkeit der Menschen als Tat zugleich der Götter erscheint, welche ihre Entschlüsse durch die Menschen zur Ausführung bringen.
Der Stoff bei diesen poetischen Deutungen ist aus den gewöhnlichen Umständen genommen, in betreff auf welche nun der Dichter erklärt, ob sich dieser oder jener Gott in der dargestellten Begebenheit ausspreche und sich innerhalb ihrer tätig erweise. Dadurch vermehrt die Poesie vornehmlich den Kreis der vielen speziellen Geschichten, welche von den Göttern erzählt werden. Wir können in dieser Beziehung an einige Beispiele erinnern, welche uns schon nach einer anderen Seite hin, bei Betrachtung des Verhältnisses der allgemeinen Mächte zu den handelnden menschlichen Individuen (Bd. I, S. 294 f.), zur Erläuterung gedient haben. Homer stellt den Achill als den Tapfersten unter den Griechen vor Troja dar.
Diese Unnahbarkeit des Helden drückt er so aus, daß Achill am ganzen Körper unverletzbar sei, außer am Knöchel, an welchem die Mutter ihn, als sie ihn in den Styx tauchte, zu halten genötigt war. Diese Geschichte gehört der Phantasie des Dichters an, der das äußerliche Faktum auslegt. Nimmt man dies nun aber so, als wenn damit ein wirkliches Faktum ausgesprochen sein sollte, das die Alten in dem Sinne geglaubt hätten, wie wir an eine sinnliche Wahrnehmung glauben, so ist dies eine ganz rohe Vorstellung, die den Homer sowie alle Griechen und den Alexander - der den Achill bewunderte und ebenso sein Glück, den Homer zum Sänger gehabt zu haben, pries - zu einfältigen Menschen macht, wie dies Adelung 2) z. B. durch die Reflexion tut, dem Achill sei die Tapferkeit nicht schwer geworden, da er seine Unverwundbarkeit gewußt habe. Achills wahre Tapferkeit wird dadurch in keiner Weise geschmälert, denn er weiß ebensosehr von seinem frühen Tode und entzieht sich dennoch, wo es gilt, niemals der Gefahr. Ganz anders ist das ähnliche Verhältnis im Nibelungenliede geschildert. Dort ist der hörnene Siegfried gleichfalls unverwundbar, aber hat außerdem noch seine Tarnkappe, welche ihn unsichtbar macht.
Wenn er in dieser Unsichtbarkeit dem Könige Gunther bei dessen Kampfe mit Brunhilde beisteht, so ist dies nur das Werk einer rohen barbarischen Zauberei, welche weder von Siegfrieds noch König Gunthers Tapferkeit einen großen Begriff gibt. Allerdings handeln beim Homer die Götter oft zum Heil einzelner Helden, aber die Götter erscheinen nur als das Allgemeine dessen, was der Mensch als Individuum ist und vollbringt und wobei er mit der ganzen Energie seiner Heldenschaft dabeisein muß. Die Götter hätten sonst in der Schlacht nur die gesamten Trojaner totzuschlagen brauchen, um den Griechen volle Hilfe zu leisten.
Dagegen schildert Homer, als er die Hauptschlacht beschreibt, ausführlich die Kämpfe der Einzelnen; und nur, als das Gemenge und Gewimmel allgemein wird, als die ganzen Massen, der Gesamtmut der Heere gegeneinander wütet, da ist es Ares selbst, der durch das Feld tobt, da kämpfen Götter gegen Götter.
Und das ist nicht etwa nur als Steigerung überhaupt schön und prächtig, sondern es liegt darin das Tiefere, daß Homer im Einzelnen und Unterscheidbaren die einzelnen Helden erkennt, in der Gesamtheit aber und dem Allgemeinen die allgemeinen Mächte und Gewalten.
- In einer anderen Beziehung läßt Homer auch den Apollo auftreten, als es darauf ankommt, den Patroklos zu töten, der die unbesiegbaren Waffen des Achill trägt (Ilias, XVI, v. 783-849). Dreimal, dem Ares vergleichbar, war Patroklos in die Haufen der Troer gestürzt, und dreimal neun Männer schon hatte er getötet. Als er darauf das viertemal einstürmte, da, von finsterer Nacht eingehüllt, wandelt der Gott durch das Getümmel ihm entgegen und schlägt ihm Rücken und Schultern, entreißt ihm den Helm, daß er dahinrollt auf den Boden und hell erklingt von den Hufen der Rosse und der Haarbusch von Blut und Staub besudelt wird, was früher niemals denkbar war. Auch die eherne Lanze zerbricht er ihm in den Händen, von den Schultern entsinkt ihm der Schild, und auch den Harnisch löst ihm Phöbos Apollo. Dies Einschreiten des Apollo kann man als die poetische Erklärung des Umstandes nehmen, daß die Mattigkeit, gleichsam der natürliche Tod es ist, der den Patroklos in dem Gewühl und der Hitze der Schlacht beim vierten Einstürmen ergreift und bezwingt. Nun erst vermag Euphorbos ihm die Lanze zwischen den Schultern in den Rücken zu bohren; noch einmal zwar sucht sich Patroklos dem Kampf zu entziehen, doch schon hat ihn Hektor ereilt und stößt ihm den Speer tief in die Weiche des Bauches. Da frohlockt Hektor und spottet des Sinkenden; Patroklos aber, mit schwachem Laut, entgegnet ihm: "Zeus und Apollo haben mich überwältigt, mühelos, da sie mir die Waffen von den Schultern zogen; zwanzig wie du hätte ich mit der Lanze niedergestreckt, doch das verderbliche Verhängnis und Apollo töten mich; Euphorbos zum zweiten, du, Hektor, zum dritten."
- Auch hier ist das Erscheinen der Götter nur die Deutung für das Begebnis, daß Patroklos, obschon ihn die Waffen des Achill schützten, ermattet, betäubt, dennoch getötet wird. Und das ist nicht etwa ein Aberglaube oder müßiges Spiel der Phantasie, sondern das Gerede allein, als werde Hektors Ruhm durch Apollos Eintreten geschmälert und als spiele auch Apollo bei dem ganzen Handel nicht eben die ehrenvollste Rolle, indem man dabei nur an die Gewalt des Gottes denken müsse - nur dergleichen Betrachtungen sind ein ebenso abgeschmackter als müßiger Aberglaube des prosaischen Verstandes. Denn in allen den Fällen, in welchen Homer spezielle Ereignisse durch dergleichen Göttererscheinungen erklärt, sind die Götter das dem Innern des Menschen selbst Immanente, die Macht seiner eigenen Leidenschaft und Betrachtung oder die Mächte seines Zustandes überhaupt, in welchem er sich befindet, die Macht und der Grund dessen, was sich begegnet und dem Menschen diesem Zustande zufolge geschieht. Zeigen sich auch zuweilen ganz äußerliche, rein positive Züge im Auftreten der Götter, so sind sie wieder dem Scherze verwandt, wie wenn z. B. der hinkende Hephaistos beim Göttermahle als Mundschenk umhergeht. Überhaupt aber ist es dem Homer kein letzter Ernst mit der Realität dieser Erscheinungen; das eine Mal handeln die Götter, das andere Mal halten sie sich wieder ganz still. Die Griechen wußten sehr wohl, daß es die Dichter seien, welche diese Erscheinungen hervorriefen, und glaubten sie daran, so betraf ihr Glaube das Geistige, welches ebenso dem eigenen Geist des Menschen einwohnt und das Allgemeine, wirklich das Wirkende und Bewegende in den vorhandenen Begebnissen ist. Nach allen diesen Seiten brauchen wir keinen Aberglauben zum Genuß dieser poetischen Darstellung der Götter mitzubringen.

1) Nicolas Fréret, 1688-1749, französischer Historiker

2) Johann Christoph Adelung, 1732-1806, Sprachforscher und Lexikograph der Aufklärung

 

 

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