2. Besondere Bestimmtheit der musikalischen Ausdrucksmittel
Nachdem wir bisher die Musik nur nach der Seite hin betrachtet haben, daß sie den Ton zum Tönen der subjektiven Innerlichkeit gestalten und beseelen müsse, fragt es sich jetzt weiter, wodurch es möglich und notwendig werde, daß die Töne kein bloßer Naturschrei der Empfindung, sondern der ausgebildete Kunstausdruck derselben seien. Denn die Empfindung als solche hat einen Inhalt, der Ton als bloßer Ton aber ist inhaltlos; er muß deshalb erst durch eine künstlerische Behandlung fähig werden, den Ausdruck eines inneren Lebens in sich aufzunehmen. Im allgemeinsten läßt sich über diesen Punkt folgendes feststellen.
Jeder Ton ist eine selbständige, in sich fertige Existenz, die sich jedoch weder zur lebendigen Einheit wie die tierische oder menschliche Gestalt gliedert und subjektiv zusammenfaßt, noch auf der anderen Seite wie ein besonderes Glied des leiblichen Organismus oder irgendein einzelner Zug des geistig oder animalisch belebten Körpers an ihm selber zeigt, daß diese Besonderheit nur erst in der beseelten Verbindung mit den übrigen Gliedern und Zügen überhaupt existieren und Sinn, Bedeutung und Ausdruck gewinnen könne. Dem äußerlichen Material nach besteht zwar ein Gemälde aus einzelnen Strichen und Farben, die auch für sich schon dasein können; die eigentliche Materie dagegen, die solche Striche und Farben erst zum Kunstwerk macht, die Linien, Flächen usf. der Gestalt haben nur erst als konkretes Ganzes einen Sinn. Der einzelne Ton dagegen ist für sich selbständiger und kann auch bis auf einen gewissen Grad durch Empfindung beseelt werden und einen bestimmten Ausdruck erhalten.
Umgekehrt aber, indem der Ton kein bloß unbestimmtes Rauschen und Klingen ist, sondern erst durch seine Bestimmtheit und Reinheit in derselben überhaupt musikalische Geltung hat, steht er unmittelbar durch diese Bestimmtheit sowohl seinem realen Klingen als auch seiner zeitlichen Dauer nach in Beziehung auf andere Töne, ja dieses Verhältnis teilt ihm erst seine eigentliche wirkliche Bestimmtheit und mit ihr den Unterschied, Gegensatz gegen andere oder die Einheit mit anderen zu.
Bei der relativeren Selbständigkeit bleibt den Tönen diese Beziehung jedoch etwas Äußerliches, so daß die Verhältnisse, in welche sie gebracht werden, nicht den einzelnen Tönen selbst in der Weise ihrem Begriff nach angehört wie den Gliedern des animalischen und menschlichen Organismus oder auch den Formen der landschaftlichen Natur. Die Zusammenstellung verschiedener Töne zu bestimmten Verhältnissen ist daher etwas, wenn auch nicht dem Wesen des Tons Widerstrebendes, doch aber erst Gemachtes und nicht sonst schon in der Natur Vorhandenes. Solche Beziehung geht insofern von einem Dritten aus und ist nur für einen Dritten, für den nämlich, welcher dieselbe auffaßt.
Dieser Äußerlichkeit des Verhältnisses wegen beruht die Bestimmtheit der Töne und ihrer Zusammenstellung in dem Quantum, in Zahlenverhältnissen, welche allerdings in der Natur des Tons selbst begründet sind, doch von der Musik in einer Weise gebraucht werden, die erst durch die Kunst selbst gefunden und aufs mannigfaltigste nuanciert ist.
Nach dieser Seite hin macht nicht die Lebendigkeit an und für sich als organische Einheit die Grundlage der Musik aus, sondern die Gleichheit, Ungleichheit usf., überhaupt die Verstandesform, wie sie im Quantitativen herrschend ist. Soll daher bestimmt von den musikalischen Tönen gesprochen werden, so sind die Angaben nur nach Zahlenverhältnissen sowie nach den willkürlichen Buchstaben zu machen, durch welche man die Töne bei uns nach diesen Verhältnissen zu bezeichnen gewohnt ist.
In solcher Zurückführbarkeit auf bloße Quanta und deren verständige, äußerliche Bestimmtheit hat die Musik ihre vornehmlichste Verwandtschaft mit der Architektur, indem sie, wie diese, sich ihre Erfindungen auf der festen Basis und dem Gerüste von Proportionen auferbaut, die sich nicht an und für sich zu einer organischen freien Gliederung, in welcher mit der einen Bestimmtheit sogleich die übrigen gegeben sind, auseinanderbreitet und zu lebendiger Einheit zusammenschließt, sondern erst in den weiteren Herausbildungen, welche sie aus jenen Verhältnissen hervorgehen läßt, anfängt, zur freien Kunst zu werden. Bringt es nun die Architektur in dieser Befreiung nicht weiter als zu einer Harmonie der Formen und zu der charakteristischen Beseelung einer geheimen Eurhythmie, so schlägt sich dagegen die Musik, da sie das innerste subjektive freie Leben und Weben der Seele zu ihrem Inhalt hat, zu dem tiefsten Gegensatz dieser freien Innerlichkeit und jener quantitativen Grundverhältnisse auseinander. In diesem Gegensatze darf sie jedoch nicht stehenbleiben, sondern erhält die schwierige Aufgabe, ihn ebenso in sich aufzunehmen als zu überwinden, indem sie den freien Bewegungen des Gemütes, die sie ausdrückt, durch jene notwendigen Proportionen einen sicheren Grund und Boden gibt, auf dem sich dann aber das innere Leben in der durch solche Notwendigkeit erst gehaltvollen Freiheit hinbewegt und entwickelt.
In dieser Rücksicht sind zunächst zwei Seiten am Ton zu unterscheiden, nach welchen er kunstgemäß zu gebrauchen ist: einmal die abstrakte Grundlage, das allgemeine, noch nicht physikalisch spezifizierte Element, die Zeit, in deren Bereich der Ton fällt; sodann das Klingen selbst, der reale Unterschied der Töne, sowohl nach seiten der Verschiedenheit des sinnlichen Materials, welches tönt, als auch in Ansehung der Töne selbst in ihrem Verhältnis zueinander als einzelne und als Totalität. Hierzu kommt dann drittens die Seele, welche die Töne belebt, sie zu einem freien Ganzen rundet und ihnen in ihrer zeitlichen Bewegung und ihrem realen Klingen einen geistigen Ausdruck gibt. Durch diese Seiten erhalten wir für die bestimmtere Gliederung nachstehende Stufenfolge.
Erstens haben wir uns mit der bloß zeitlichen Dauer und Bewegung zu beschäftigen, welche die Kunst nicht zufällig belassen darf, sondern nach festen Maßen zu bestimmen, durch Unterschiede zu vermannigfaltigen hat und in diesen Unterschieden die Einheit wiederherstellen muß. Dies gibt die Notwendigkeit für Zeitmaß, Takt und Rhythmus.
Zweitens aber hat es die Musik nicht nur mit der abstrakten Zeit und den Verhältnissen längerer oder kürzerer Dauer, Einschnitte, Heraushebungen usf., sondern mit der konkreten Zeit der ihrem Klang nach bestimmten Töne zu tun, welche deshalb nicht nur ihrer Dauer nach voneinander unterschieden sind. Dieser Unterschied beruht einerseits auf der spezifischen Qualität des sinnlichen Materials, durch dessen Schwingungen der Ton hervorkommt, andererseits auf der verschiedenen Anzahl von Schwingungen, in welchen die klingenden Körper in der gleichen Zeitdauer erzittern. Drittens erweisen sich diese Unterschiede als die wesentlichen Seiten für das Verhältnis der Töne in ihrem Zusammenstimmen, ihrer Entgegensetzung und Vermittlung. Wir können diesen Teil mit einer allgemeinen Benennung als die Lehre von der Harmonie bezeichnen.
Drittens endlich ist es die Melodie, durch welche sich auf diesen Grundlagen des rhythmisch beseelten Taktes und der harmonischen Unterschiede und Bewegungen das Reich der Töne zu einem geistig freien Ausdruck zusammenschließt und uns dadurch zu dem folgenden letzten Hauptabschnitte herüberleitet, welcher die Musik in ihrer konkreten Einigung mit dem geistigen Inhalte, der sich in Takt, Harmonie und Melodie ausdrücken soll, zu betrachten hat.
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