c. Das freie poetische Kunstwerk
Aus diesem Unterschiede des eigentlich Poetischen von den Produkten der Geschichtsschreibung und Redekunst können wir uns drittens für das poetische Kunstwerk als solches noch folgende Gesichtspunkte festsetzen.
α) In der Geschichtsschreibung lag das Prosaische vornehmlich darin, daß, wenn auch ihr Gehalt innerlich substantiell und von gediegener Wirksamkeit sein konnte, die wirkliche Gestalt desselben dennoch vielfach von relativen Umständen begleitet, von Zufälligkeiten umhäuft und durch Willkürlichkeiten verunreinigt erscheinen mußte, ohne daß der Geschichtsschreiber das Recht hatte, diese der unmittelbaren Wirklichkeit schlechthin zugehörige Form der Realität zu verwandeln.
αα) Das Geschäft dieser Umwandlung nun ist ein Hauptberuf der Dichtkunst, wenn sie ihrem Stoffe nach den Boden der Geschichtsschreibung betritt. Sie hat in diesem Falle den innersten Kern und Sinn einer Begebenheit, Handlung, eines nationalen Charakters, einer hervorragenden historischen Individualität herauszufinden, die umherspielenden Zufälligkeiten aber und gleichgültigen Beiwerke des Geschehens, die nur relativen Umstände und Charakterzüge abzustreifen und dafür solche an die Stelle zu setzen, durch welche die innere Substanz der Sache klar herausscheinen kann, so daß dieselbe in dieser umgewandelten Außengestalt so sehr ihr gemäßes Dasein findet, daß sich nun erst das an und für sich Vernünftige in seiner ihm an und für sich entsprechenden Wirklichkeit entwickelt und offenbar macht. Dadurch allein vermag die Poesie zugleich für das bestimmte Werk sich ihren Inhalt zu einem festeren Mittelpunkte in sich abzugrenzen, der sich dann ebenso zu einer gerundeten Totalität entfalten kann, da er die besonderen Teile einerseits strenger zusammenhält, andererseits, ohne die Einheit des Ganzen zu gefährden, auch jeder Einzelheit ihr gehöriges Recht zu selbständiger Ausprägung vergönnen darf.
ββ) Weiter noch kann sie in dieser Rücksicht gehen, wenn sie nicht den Gehalt und die Bedeutung des wirklich historisch Geschehenen, sondern irgendeinen damit näher oder entfernter verwandten Grundgedanken, eine menschliche Kollision überhaupt, zu ihrem Hauptinhalt macht und die historischen Fakta und Charaktere, das Lokal usf. nur mehr als individualisierende Einkleidung benutzt. Hier tritt dann aber die doppelte Schwierigkeit ein, daß entweder die geschichtlich bekannten Data, wenn sie mit in die Darstellung aufgenommen werden, jenem Grundgedanken nicht durchweg anpassend sein können oder daß umgekehrt, wenn der Dichter dies Bekannte teils beibehält, teils aber zu seinen Zwecken in wichtigen Punkten umändert, dadurch ein Widerspruch des sonst schon in unserer Vorstellung Festen und des durch die Poesie neu Hervorgebrachten entsteht. Diesen Zwiespalt und Widerspruch zu lösen und den rechten störungslosen Einklang zustande zu bringen, ist schwer, doch notwendig, denn auch die Wirklichkeit hat in ihren wesentlichen Erscheinungen ein unbestreitbares Recht.
γγ) Die ähnliche Forderung nun ist für die Poesie noch in einem ausgebreiteteren Kreise geltend zu machen. Was nämlich die Dichtkunst an äußerem Lokal, Charakteren, Leidenschaften, Situationen, Konflikten, Begebnissen, Handlungen, Schicksalen darstellt, das alles findet sich auch sonst schon, mehr als man gewöhnlich glauben mag, in der Wirklichkeit des Lebens vor. Auch hier also betritt die Poesie gleichsam einen historischen Boden, und ihre Abweichungen und Änderungen müssen in diesem Felde ebenfalls aus der Vernunft der Sache und dem Bedürfnis, für dies Innere die adäquateste lebendige Erscheinung zu finden, nicht aber aus dem Mangel an gründlicher Kenntnis und Durchlebung des Wirklichen oder aus Laune, Willkür und Sucht nach barocken Eigentümlichkeiten einer querköpfigen Originalität hervorgehen.
β) Die Redekunst zweitens gehört der Prosa des praktischen Endzwecks wegen an, der in ihrer Absicht liegt und zu dessen praktischer Durchführung sie die Pflicht hat, der Zweckmäßigkeit durchgängig Folge zu leisten.
αα) In dieser Rücksicht muß die Poesie um nicht gleichfalls in das Prosaische zu fallen, sich vor jedem außerhalb der Kunst und des reinen Kunstgenusses liegenden Zweck bewahren. Denn kommt es ihr wesentlich auf dergleichen Absichten an, welche in diesem Falle aus der ganzen Fassung und Darstellungsart herausscheinen, so ist sogleich das poetische Werk aus der freien Höhe, in deren Region es nur seiner selbst wegen dazusein zeigt, in das Gebiet des Relativen heruntergezogen, und es entsteht entweder ein Bruch zwischen dem, was die Kunst verlangt, und demjenigen, was die anderweitigen Intentionen fordern, oder die Kunst wird, ihrem Begriffe zuwider, nur als ein Mittel verbraucht und damit zur Zweckdienlichkeit herabgesetzt. Von dieser Art z. B. ist die Erbaulichkeit vieler Kirchenlieder, in denen bestimmte Vorstellungen nur der religiösen Wirkung wegen Platz gewinnen und eine Art der Anschaulichkeit erhalten, welche der poetischen Schönheit entgegen ist. Überhaupt muß die Poesie als Poesie nicht religiös und nur religiös erbauen und uns dadurch in ein Gebiet hinüberführen wollen, das wohl mit der Poesie und Kunst Verwandtschaft hat, doch ebenso von ihr verschieden ist. Dasselbe gilt für das Lehren, moralische Bessern, politische Aufregen oder bloß oberflächliche Zeitvertreiben und Vergnügen. Denn dies alles sind Zwecke, zu deren Erreichung die Poesie allerdings unter allen Künsten am meisten behilflich sein kann, doch diese Hilfe, soll sie sich frei nur in ihrem eigenen Kreise bewegen, nicht zu leisten unternehmen darf, insofern in der Dichtkraft nur das Poetische, nicht aber das, was außerhalb der Poesie liegt, als bestimmender und durchgeführter Zweck regieren muß und jene anderweitigen Zwecke in der Tat durch andere Mittel noch vollständiger zum Ziele geführt werden können.
ββ) Dennoch aber soll die Dichtkunst umgekehrt in der konkreten Wirklichkeit keine absolut isolierte Stellung behaupten wollen, sondern muß, selber lebendig, mitten ins Leben hineintreten. Schon im ersten Teile sahen wir, in wie vielen Zusammenhängen die Kunst mit dem sonstigen Dasein stehe, dessen Gehalt und Erscheinungsweise auch sie zu ihrem Inhalt und ihrer Form macht. In der Poesie nun zeigt sich die lebendige Beziehung zu dem vorhandenen Dasein und dessen einzelnen Vorfällen, privaten und öffentlichen Angelegenheiten am reichhaltigsten in den sogenannten Gelegenheitsgedichten. In einem weiteren Sinne des Worts könnte man die meisten poetischen Werke mit diesem Namen bezeichnen, in der engeren, eigentlichen Bedeutung jedoch müssen wir denselben auf solche Produktionen beschränken, welche ihren Ursprung in der Gegenwart selbst irgendeinem Ereignisse verdanken, dessen Erhebung, Ausschmückung, Gedächtnisfeier usf. sie nun auch ausdrücklich gewidmet sind. Durch solch lebendige Verflechtung aber scheint die Poesie wiederum in Abhängigkeit zu geraten, und man hat deshalb auch häufig diesem ganzen Kreise nur einen untergeordneten Wert zuschreiben wollen, obschon zum Teil, besonders in der Lyrik, die berühmtesten Werke hierher gehören.
γγ) Es fragt sich daher, wodurch die Poesie auch in diesem Konflikte noch ihre Selbständigkeit zu bewahren imstande sei. Ganz einfach dadurch, daß sie die äußere vorgefundene Gelegenheit nicht als den wesentlichen Zweck und sich dagegen nur als ein Mittel betrachtet und hinstellt, sondern umgekehrt den Stoff jener Wirklichkeit in sich hineinzieht und mit dem Recht und der Freiheit der Phantasie gestaltet und ausbildet. Dann nämlich ist nicht die Poesie das Gelegentliche und Beiherlaufende, sondern jener Stoff ist die äußere Gelegenheit, auf deren Anstoß der Dichter sich seinem tieferen Eindringen und reineren Ausgestalten überläßt und dadurch das erst aus sich erschafft, was ohne ihn in dem unmittelbar wirklichen Falle nicht in dieser freien Weise zum Bewußtsein gekommen wäre.
γ) So ist denn jedes wahrhaft poetische Kunstwerk ein in sich unendlicher Organismus: gehaltreich und diesen Inhalt in entsprechender Erscheinung entfaltend; einheitsvoll, doch nicht in Form und Zweckmäßigkeit, die das Besondere abstrakt unterwirft, sondern im Einzelnen von derselben lebendigen Selbständigkeit, in welcher sich das Ganze ohne scheinbare Absicht zu vollendeter Rundung in sich zusammenschließt; mit dem Stoffe der Wirklichkeit erfüllt, doch weder zu diesem Inhalte und dessen Dasein noch zu irgendeinem Lebensgebiete im Verhältnis der Abhängigkeit, sondern frei aus sich schaffend, um den Begriff der Dinge zu seiner echten Erscheinung herauszugestalten und das äußerlich Existierende mit seinem innersten Wesen in versöhnenden Einklang zu bringen.
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