2. Besondere Bestimmungen des eigentlichen Epos
Wir haben bisher in Rücksicht auf den allgemeinen Charakter der epischen Poesie zunächst die unvollständigen Arten kurz angeführt, welche, obschon von epischem Tone, dennoch keine totalen Epopöen sind, indem sie weder einen Nationalzustand noch eine konkrete Begebenheit innerhalb solch einer Gesamtwelt darstellen. Dies letztere aber gibt erst den gemäßen Inhalt für das vollständige Epos ab, dessen Grundzüge und Bedingungen ich soeben bezeichnet habe.
Nach diesen Vorerinnerungen nun müssen wir uns jetzt nach den besonderen Anforderungen umsehen, die sich aus der Natur des epischen Kunstwerkes selber herleiten lassen. Hier tritt uns aber sogleich die Schwierigkeit entgegen, daß sich im allgemeinen über dies Speziellere wenig sagen läßt, so daß wir gleich auf das Geschichtliche eingehen und die einzelnen epischen Werke der Völker betrachten müßten, welche bei der großen Verschiedenheit der Zeiten und Nationen für zusammenstimmende Resultate wenig Hoffnung geben. Diese Schwierigkeit findet jedoch ihre Erledigung darin, daß aus den vielen epischen Bibeln eine kann herausgehoben werden, in welcher wir den Beleg für das erhalten, was sich als den wahrhaften Grundcharakter des eigentlichen Epos feststellen läßt. Dies sind die Homerischen Gesänge. Aus ihnen vornehmlich will ich deshalb die Züge entnehmen, welche, wie mir scheint, für das Epos der Natur der Sache nach die Hauptbestimmungen ausmachen. Wir können dieselben zu folgenden Gesichtspunkten zusammenfassen.
Erstens entsteht die Frage, von welcher Beschaffenheit der allgemeine Weltzustand sein müsse, auf dessen Boden das epische Begebnis zu einer angemessenen Darstellung gelangen kann.
Zweitens ist es die Art dieser individuellen Begebenheit selbst, deren Qualität wir zu untersuchen haben.
Drittens endlich müssen wir einen Blick auf die Form werfen, in welcher sich diese beiden Seiten zur Einheit eines Kunstwerks verschlingen und episch abrunden.
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