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Inhalt - Übersicht

Einleitung

Erster Teil.
Die Idee des Kunstschönen oder das Ideal

Stellung der Kunst im Verhältnis zur endlichen Wirklichkeit und zur Religion und Philosophie

Zweiter Teil. Entwicklung des Ideals zu den besonderen Formen des Kunstschönen

Dritter Teil.
Das System der einzelnen Künste

Vom “Ende der Kunst” >

Wie nun aber die Kunst in der Natur und den endlichen Gebieten des Lebens ihr Vor hat, ebenso hat sie auch ein Nach, ...  >>>

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Vorlesungen über die Ästhetik
                          
(1835-1838)                                                              

   Inhalt - Übersicht       

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a. Der epische allgemeine Weltzustand

Wir haben gleich anfangs gesehen, daß sich in dem wahrhaft epischen Begebnis nicht eine einzelne willkürliche Tat vollbringe und somit ein bloß zufälliges Geschehen erzählt werde, sondern eine in die Totalität ihrer Zeit und nationalen Zustände verzweigte Handlung, welche deshalb nun auch nur innerhalb einer ausgebreiteten Welt zur Anschauung gelangen kann und die Darstellung dieser gesamten Wirklichkeit fordert. - In Rücksicht auf die echt poetische Gestalt dieses allgemeinen Bodens kann ich mich kurz fassen, insofern ich die Hauptpunkte bereits im ersten Teile bei Gelegenheit des allgemeinen Weltzustandes für die ideale Handlung berührt habe (Bd. I, S. 235-257).
Ich will daher an dieser Stelle nur das anführen, was für das Epos von Wichtigkeit ist.

α) Das Passendste für den ganzen Lebenszustand, den das Epos zum Hintergrunde macht, besteht darin, daß derselbe für die Individuen bereits die Form vorhandener Wirklichkeit hat, doch mit ihnen noch in dem engsten Zusammenhange ursprünglicher Lebendigkeit bleibt.
Denn sollen die Helden, welche an die Spitze gestellt sind, erst einen Gesamtzustand gründen, so fällt die Bestimmung dessen, was da ist oder zur Existenz kommen soll, mehr als es dem Epos geziemt in den subjektiven Charakter, ohne als objektive Realität erscheinen zu können.

αα) Die Verhältnisse des sittlichen Lebens, der Zusammenhalt der Familie sowie des Volkes als ganzer Nation in Krieg und Frieden müssen sich eingefunden, gemacht und entwickelt haben, umgekehrt aber noch nicht zu der Form allgemeiner, auch ohne die lebendige subjektive Besonderheit der Individuen für sich gültiger Satzungen, Pflichten und Gesetze gediehen sein, welche sich auch gegen das individuelle Wollen festzuhalten die Kraft besitzen.
Der Sinn des Rechts und der Billigkeit, die Sitte, das Gemüt, der Charakter muß im Gegenteil als ihr alleiniger Ursprung und ihre Stütze erscheinen, so daß noch kein Verstand sie in Form prosaischer Wirklichkeit dem Herzen, der individuellen Gesinnung und Leidenschaft gegenüberzustellen und zu befestigen vermag. Einen schon zu organisierter Verfassung herausgebildeten Staatszustand mit ausgearbeiteten Gesetzen, durchgreifender Gerichtsbarkeit, wohleingerichteter Administration, Ministerien, Staatskanzleien, Polizei usf. haben wir als Boden einer echt epischen Handlung von der Hand zu weisen. Die Verhältnisse objektiver Sittlichkeit müssen wohl schon gewollt sein und sich verwirklichen, aber nur durch die handelnden Individuen selbst und deren Charakter, nicht aber sonst schon in allgemein geltender und für sich berechtigter Form ihr Dasein erhalten können.
So finden wir im Epos zwar die substantielle Gemeinsamkeit des objektiven Lebens und Handelns, ebenso aber die Freiheit in diesem Handeln und Leben, das ganz aus dem subjektiven Willen der Individuen hervorzugehen scheint.

ββ) Dasselbe gilt für die Beziehung des Menschen auf die ihn umgebende Natur, aus welcher er sich die Mittel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse nimmt, sowie für die Art dieser Befriedigung. Auch in dieser Rücksicht muß ich auf das zurückweisen, was ich früher bereits bei Gelegenheit der äußeren Bestimmtheit des Ideals weitläufiger ausgeführt habe (Bd. I, S. 333-341).
Was der Mensch zum äußeren Leben gebraucht, Haus und Hof, Gezelt, Sessel, Bett, Schwert und Lanze, das Schiff, mit dem er das Meer durchfurcht, der Wagen, der ihn zum Kampf führt, Sieden und Braten, Schlachten, Speisen und Trinken: es darf ihm nichts von allem diesen nur ein totes Mittel geworden sein, sondern er muß sich noch mit ganzem Sinn und Selbst darin lebendig fühlen und dadurch dem an sich Äußerlichen durch den engen Zusammenhang mit dem menschlichen Individuum ein selber menschlich beseeltes individuelles Gepräge geben.
Unser heutiges Maschinen- und Fabrikenwesen mit den Produkten, die aus demselben hervorgehen, sowie überhaupt die Art, unsere äußeren Lebensbedürfnisse zu befriedigen, würde nach dieser Seite hin ganz ebenso als die moderne Staatsorganisation dem Lebenshintergrunde unangemessen sein, welchen das ursprüngliche Epos erheischt. Denn wie der Verstand mit seinen Allgemeinheiten und deren von der individuellen Gesinnung unabhängig sich durchsetzenden Herrschaft in den Zuständen der eigentlich epischen Weltanschauung sich noch nicht muß geltend gemacht haben, so darf hier auch der Mensch noch nicht von dem lebendigen Zusammenhange mit der Natur und der kräftigen und frischen, teils befreundeten, teils kämpfenden Gemeinschaft mit ihr losgelöst erscheinen.

γγ) Dies ist der Weltzustand, den ich, im Unterschiede des idyllischen, schon andernorts den heroischen nannte. In schönster Poesie und Reichhaltigkeit echt menschlicher Charakterzüge finden wir ihn bei Homer geschildert.
Hier haben wir im häuslichen und öffentlichen Leben ebensowenig eine barbarische Wirklichkeit als die bloß verständige Prosa eines geordneten Familien- und Staatslebens, sondern jene ursprünglich poetische Mitte vor uns, wie ich sie oben bezeichnet habe.
Ein Hauptpunkt aber betrifft in dieser Rücksicht die freie Individualität aller Gestalten.
In der Ilias z. B. ist Agamemnon wohl der König der Könige, die übrigen Fürsten stehen unter seinem Zepter, aber seine Oberherrschaft wird nicht zu dem trockenen Zusammenhange des Befehls und Gehorsams, des Herren und seiner Diener. Im Gegenteil, Agamemnon muß viel Rücksicht nehmen und klug nachzugeben verstehen, denn die einzelnen Führer sind keine zusammenberufenen Statthalter oder Generale, sondern selbständig wie er selber; frei haben sie sich um ihn her gesammelt oder sind durch allerlei Mittel zu dem Zuge verleitet, er muß sich mit ihnen beraten, und beliebt es ihnen nicht, so halten sie sich wie Achilles vom Kampfe fern. Die freie Teilnahme wie das ebenso eigenwillige Abschließen, worin die Unabhängigkeit der Individualität sich unversehrt bewahrt, gibt dem ganzen Verhältnisse seine poetische Gestalt.
Das Ähnliche finden wir in den Ossianischen Gedichten wie in der Beziehung des Cid zu den Fürsten, denen dieser poetische Held nationaler romantischer Ritterschaft dient.
Auch bei Ariost und Tasso ist noch dies freie Verhältnis nicht gefährdet, und bei Ariost besonders ziehen die einzelnen Helden in fast zusammenhangsloser Selbständigkeit auf eigene Abenteuer aus. Wie die Fürsten zu Agamemnon, so steht nun auch das Volk zu seinen Führern. Freiwillig ist es denselben gefolgt; es ist da noch kein zwingendes Gesetz, dem das Volk unterworfen wäre; Ehre, Achtung, Schamgefühl vor dem Mächtigeren, der immer Gewalt brauchen würde, das Imponieren des Heldencharakters usf. macht den Grund des Gehorsams aus. Und so herrscht auch im Innern des Hauses Ordnung, aber nicht als feste Gesindeordnung, sondern als Gesinnung und Sitte. Alles erscheint, als sei es eben unmittelbar so geworden. Von den Griechen z. B. erzählt Homer bei Gelegenheit eines Kampfes mit den Troern, auch sie hätten viele rüstige Streiter verloren, doch weniger als die Troer, denn (sagt Homer) sie gedachten immer einander die harte Not abzuhalten. Sie halfen also einander.
Wollten wir nun heutigentags einen Unterschied zwischen einer wohleinexerzierten und unzivilisierten Heeresmacht aufstellen, so würden wir das Wesentliche gebildeter Heere auch in diesem Zusammenhalt und Bewußtsein, nur in Einheit mit anderen zu gelten, suchen müssen. Barbaren sind nur Haufen, in denen sich keiner auf den anderen verlassen kann. Was aber bei uns als Resultat einer strengen und mühseligen Militärdisziplin, als Einübung, Kommando und Herrschaft fester Ordnung erscheint, das ist bei Homer noch eine Sitte, die sich von selber macht und den Individuen als Individuen lebendig innewohnt.

Den gleichen Grund haben nun auch bei Homer die mannigfaltigen Beschreibungen äußerlicher Dinge und Zustände. Bei Naturszenen, wie sie in unseren Romanen beliebt sind, hält er sich zwar nicht viel auf; dagegen ist er höchst umständlich in Schilderung eines Stockes, Zepters, Bettes, der Waffen, Gewänder, Türpfosten und vergißt selbst nicht der Angeln zu erwähnen, auf denen die Tür sich dreht.
Bei uns würde dergleichen als sehr äußerlich und gleichgültig erscheinen, ja wir sind sogar unserer Bildung nach gegen eine Menge Gegenstände, Sachen und Ausdrücke von höchst spröder Vornehmigkeit und haben eine weitläufige Rangordnung in den verschiedenen Stockwerken der Kleidung, Gerätschaften usf. Außerdem zersplittert sich jetzigerzeit jede Hervorbringung und Zubereitung irgendeines Befriedigungsmittels unserer Bedürfnisse zu solcher Vielfältigkeit von Geschäften der Fabriks- und Handwerkstätigkeit, daß alle die besonderen Seiten dieser breiten Verzweigung zu etwas Untergeordnetem herabgesetzt sind, das wir nicht beachten und aufzählen dürfen. Die Existenz der Heroen aber hat eine ungleich ursprünglichere Einfachheit der Gegenstände und Erfindungen und kann sich bei ihrer Beschreibung aufhalten, weil alle diese Dinge noch in gleichem Range stehen und als etwas gelten, worin der Mensch, insofern sein ganzes Leben ihn nicht davon ableitet und in eine nur intellektuelle Sphäre führt, noch eine Ehre seiner Geschicklichkeit, seines Reichtums seines positiven Interesses hat. Ochsen zu schlachten, zuzubereiten, Wein einzuschenken usf. ist ein Geschäft der Heroen selbst, das sie als Zweck und Genuß treiben, während bei uns ein Mittagessen, wenn es nicht alltäglich sein soll, nicht nur seltene delikate Sachen zutage bringen muß, sondern außerdem auch vortreffliche Diskurse verlangt. Die umständlichen Schildereien Homers in diesem Kreise von Gegenständen dürfen uns deshalb nicht eine poetische Zutat zu einer kahleren Sache dünken, sondern diese ausführliche Beachtung ist der Geist der geschilderten Menschen und Zustände selbst; wie bei uns z. B. die Bauern über äußerliche Dinge mit großer Ausführlichkeit reden oder auch unsere Kavaliere von ihren Ställen, Pferden, Stiefeln, Sporen, Hosen usf. mit ähnlicher Breite zu erzählen wissen, was denn freilich in dem Kontrast gegen ein würdigeres intellektuelles Leben als platt erscheint.

Diese Welt nun darf nicht bloß das beschränkt Allgemeine der besonderen Begebenheit in sich fassen, die auf solch einem vorausgesetzten Boden vor sich geht, sondern muß sich zur Totalität der Nationalanschauung erweitern. Hiervon finden wir das schönste Beispiel in der Odyssee, welche uns nicht nur in das häusliche Leben der griechischen Fürsten und ihrer Diener und Untergebenen einführt, sondern auch die mannigfachen Vorstellungen von fremden Völkern, den Gefahren des Meers, der Behausung der Abgeschiedenen usf. aufs reichhaltigste vor uns ausbreitet.
Doch auch in der Ilias, wo der Schauplatz der Taten, der Natur des Gegenstandes gemäß, beschränkter sein mußte und inmitten des kriegerischen Kampfes Szenen des Friedens wenig Platz finden konnten, hat Homer z. B. kunstvoll das ganze Rund der Erde und des menschlichen Lebens, Hochzeiten, gerichtliche Handlungen, Ackerbau, Herden usf., Privatkriege der Städte gegeneinander mit bewunderungswürdiger Anschauung angebracht auf dem Schilde des Achill, dessen Beschreibung insofern als kein äußeres Nebenwerk angesehen werden darf. In den Gedichten dagegen, die Ossians Namen tragen, ist die Welt im ganzen zu beschränkt und unbestimmt und hat ebendeswegen schon einen lyrischen Charakter, während auch Dantes Engel und Teufel keine Welt für sich sind, die uns näher anginge, sondern nur dazu dienen, den Menschen zu belohnen und zu strafen.
Vor allem aber fehlt in dem Nibelungenliede die bestimmte Wirklichkeit eines anschaulichen Grundes und Bodens, so daß die Erzählung in dieser Rücksicht schon gegen den bänkelsängerischen Ton hingeht.
Denn sie ist zwar weitläufig genug, doch in der Art, wie wenn Handwerksburschen von weitem davon gehört und die Sache nun nach ihrer Weise erzählen wollten. Wir bekommen die Sache nicht zu sehen, sondern merken nur das Unvermögen und Abmühen des Dichters. Diese langweilige Breite der Schwäche ist freilich im Heldenbuche noch ärger, bis sie endlich nur von den wirklichen Handwerksburschen, welche Meistersänger waren, übertroffen worden ist.

β) Indem jedoch das Epos für die Kunst eine spezifisch nach allen Seiten der Besonderung bestimmte Welt zu gestalten hat und deshalb an sich selber individuell sein muß, so ist es die Welt eines bestimmten Volks, die sich darin abspiegelt.

αα) In dieser Rücksicht geben uns alle wahrhaft ursprünglichen Epopöen die Anschauung eines nationalen Geistes in seinem sittlichen Familienleben, öffentlichen Zuständen des Kriegs und Friedens, in seinen Bedürfnissen, Künsten, Gebräuchen, Interessen, überhaupt ein Bild der ganzen Stufe und Weise des Bewußtseins. Die epischen Gedichte würdigen, sie näher betrachten, auslegen heißt daher, wie wir schon oben sahen, nichts anderes, als die individuellen Geister der Nationen vor unserem geistigen Auge vorbeipassieren lassen. Sie zusammen stellen selbst die Weltgeschichte dar, in deren schönster, freier, bestimmter Lebendigkeit, Hervorbringung und Tat. Griechischen Geist z. B. und griechische Geschichte oder wenigstens das Prinzip dessen, was das Volk in seinem Ausgangspunkte war und was es mitbrachte, um den Kampf seiner eigentlichen Geschichte zu bestehen, lernt man aus keiner Quelle so lebendig, so einfach kennen als aus Homer.

ββ) Nun gibt es aber zweierlei Arten nationaler Wirklichkeit: erstens eine ganz positive Welt speziellster Gebräuche gerade dieses einzelnen Volks, in dieser bestimmten Zeit, bei dieser geographischen und klimatischen Lage, diesen Flüssen, Bergen, Wäldern und Naturumgebung überhaupt; zweitens die nationale Substanz des geistigen Bewußtseins in Ansehung auf Religion, Familie, Gemeinwesen usf.
Soll ein ursprüngliches Epos nun, wie wir es forderten, die dauernd gültige Bibel, das Volksbuch sein und bleiben, so wird das Positive der vergangenen Wirklichkeit auf ein fortwirkend lebendiges Interesse nur insofern Anspruch machen können, als die positiven Charakterzüge in einem inneren Zusammenhange mit jenen eigentlich substantiellen Seiten und Richtungen des nationalen Daseins stehen.
Denn sonst wird das Positive ganz zufällig und gleichgültig.
So gehört z. B. eine einheimische Geographie zur Nationalität; gibt sie aber nicht dem Volke seinen spezifischen Charakter, so ist eine ferne anderweitige Naturumgebung, wenn dieselbe nur nicht der nationalen Eigentümlichkeit widerspricht, teils von keiner Störung, teils kann sie sogar für die Einbildungskraft etwas Anziehendes haben. An die unmittelbare Gegenwart heimischer Berge und Ströme knüpfen sich zwar die sinnlichen Erinnerungen der Jugend; fehlt aber das tiefere Band der ganzen Anschauungs- und Denkweise, so sinkt dieser Zusammenhang doch mehr oder weniger zu etwas Äußerlichem herab. Außerdem ist es bei Kriegsunternehmungen, wie z. B. in der Ilias, nicht möglich, das vaterländische Lokal beizubehalten; ja, hier hat die fremde Naturumgebung sogar etwas Reizendes und Lockendes. - Schlimmer aber steht es mit der dauernden Lebendigkeit eines Epos, wenn sich im Verlauf der Jahrhunderte das geistige Bewußtsein und Leben so umgewandelt hat, daß die Bande dieser späteren Vergangenheit und jenes Ausgangspunktes ganz zerrissen sind.
So ist es z. B. Klopstock in anderen Gebieten der Poesie mit seiner Herstellung einer nationalen Götterlehre und in ihrem Gefolge mit Hermann und Thusnelda ergangen. Dasselbe ist vom Nibelungenliede zu sagen. Die Burgunder, Kriemhilds Rache, Siegfrieds Taten, der ganze Lebenszustand, das Schicksal des gesamten untergehenden Geschlechts, das nordische Wesen, König Etzel usf. - das alles hat mit unserem häuslichen, bürgerlichen, rechtlichen Leben, unseren Institutionen und Verfassungen in nichts mehr irgendeinen lebendigen Zusammenhang. Die Geschichte Christi, Jerusalem, Bethlehem, das römische Recht, selbst der Trojanische Krieg haben viel mehr Gegenwart für uns als die Begebenheiten der Nibelungen, die für das nationale Bewußtsein nur eine vergangene, wie mit dem Besen rein weggekehrte Geschichte sind. Dergleichen jetzt noch zu etwas Nationalem und gar zu einem Volksbuche machen zu wollen ist der trivialste, platteste Einfall gewesen. In Tagen scheinbar neu auflodernder Jugendbegeisterung war es ein Zeichen von dem Greisenalter einer in der Annäherung des Todes wieder kindisch gewordenen Zeit, die sich an Abgestorbenem erlabte und darin ihr Gefühl, ihre Gegenwart zu haben auch anderen hat zumuten können.

γγ) Soll nun aber ein nationales Epos auch für fremde Völker und Zeiten ein bleibendes Interesse gewinnen, so gehört dazu, daß die Welt, die es schildert, nicht nur von besonderer Nationalität, sondern von der Art sei, daß sich in dem speziellen Volke und seiner Heldenschaft und Tat zugleich das Allgemeinmenschliche eindringlich ausprägt. So hat z. B. der in sich unmittelbar göttliche und sittliche Stoff, die Herrlichkeit der Charaktere und des gesamten Daseins, die anschauliche Wirklichkeit, in welcher der Dichter das Höchste und Geringste vor uns zu bringen weiß, in Homers Gedichten unsterbliche ewige Gegenwart.
Es herrscht unter den Nationen in dieser Rücksicht ein großer Unterschied.
Dem Ramajana z. B. kann es nicht abgesprochen werden, daß er den indischen Volksgeist, besonders von der religiösen Seite her, aufs lebendigste in sich trägt; aber der Charakter des ganzen indischen Lebens ist so überwiegend spezifischer Art, daß das eigentlich und wahrhaft Menschliche die Schranke dieser Besonderheit nicht zu durchbrechen vermag. Ganz anders dagegen hat sich die gesamte christliche Welt in den epischen Darstellungen, wie sie das Alte Testament vornehmlich in den Gemälden der patriarchalischen Zustände enthält, von früh an heimisch gefunden und diese zu so energischer Anschaulichkeit herausgestellten Begebnisse immer von neuem genossen; wie Goethe z. B. schon in seiner Kindheit "bei seinem zerstreuten Leben und zerstückelten Lernen dennoch seinen Geist, seine Gefühle auf diesen einen Punkt zu einer stillen Wirkung versammelte"
1) und selbst in spätem Alter noch von ihnen sagt, daß er bei allen Wanderungen durch den Orient immer wieder zu diesen Schriften zurückkehrte,
"als den erquicklichsten, obgleich hie und da getrübten, in die Erde sich verbergenden, sodann aber rein und frisch wieder hervorspringenden Quellwassern"2).

γ) Drittens endlich muß der allgemeine Zustand eines besonderen Volks nicht in dieser ruhigen Allgemeinheit seiner Individualität den eigentlichen Gegenstand des Epos abgeben und für sich beschrieben werden, sondern kann nur als die Grundlage erscheinen, auf deren Boden sich eine sich fortentwickelnde Begebenheit ereignet, welche alle Seiten der Volkswirklichkeit berührt und dieselben in sich hereintreten macht. Ein solches Geschehen nun darf keine bloß äußere Vorfallenheit, sondern muß ein substantieller, geistiger, durch den Willen sich vollführender Zweck sein. Sollen aber beide Seiten, der allgemeine Volkszustand und die individuelle Tat, nicht auseinanderfallen, so muß die bestimmte Begebenheit ihre Veranlassung in dem Grund und Boden selber finden, auf dem sie sich bewegt.
Dies heißt nichts anderes, als daß die vorgeführte epische Welt in so konkreter, einzelner Situation gefaßt sein muß, daß daraus notwendig die bestimmten Zwecke hervorgehen, deren Realisation das Epos zu erzählen berufen ist.
Nun haben wir bereits im ersten Teile bei Gelegenheit der idealen Handlung überhaupt gesehen (Bd. I, S. 266-283), daß dieselbe sich solche Situationen und Umstände voraussetzt, welche zu Konflikten, verletzenden Aktionen und dadurch notwendigen Reaktionen führen. Die bestimmte Situation, in welcher sich der epische Weltzustand eines Volks vor uns auftut, muß deshalb in sich selber kollidierender Art sein. Dadurch betritt die epische Poesie ein und dasselbe Feld mit der dramatischen, und wir haben daher an dieser Stelle von Hause aus den Unterschied epischer und dramatischer Kollisionen festzustellen.

αα) Im allgemeinsten läßt sich der Konflikt des Kriegszustandes als die dem Epos gemäßeste Situation angeben. Denn im Kriege ist es eben die ganze Nation, welche in Bewegung gesetzt wird und in ihren Gesamtzuständen eine frische Regung und Tätigkeit erfährt, insofern hier die Totalität als solche für sich selber einzustehen die Veranlassung hat.
Diesem Grundsatze scheinen zwar, wenn derselbe auch durch die meisten großen Epopöen bestätigt wird, sowohl die Odyssee Homers als auch viele Stoffe geistlicher epischer Gedichte zu widersprechen.
Die Kollision aber, von deren Begebnissen uns die Odyssee Bericht erstattet, findet gleichfalls in dem trojanischen Zuge ihren Grund und ist sowohl von seiten der häuslichen Zustände auf Ithaka als auch von seiten des heimstrebenden Odysseus, obschon keine wirkliche Darstellung der Kämpfe zwischen Griechen und Troern, doch aber eine unmittelbare Folge des Kriegs; ja selber eine Art von Krieg, denn viele Haupthelden müssen sich ihre Heimat, die sie nach zehnjähriger Abwesenheit in veränderten Zuständen wiederfinden, von neuem gleichsam erobern.
- Was die religiösen Epen angeht, so steht uns hauptsächlich Dantes Göttliche Komödie entgegen.
Doch auch hier leitet sich die Grundkollision aus jenem ursprünglichen Abfall des Diabolischen von Gott her, welcher innerhalb der menschlichen Wirklichkeit den steten äußeren und inneren Krieg zwischen dem Gott zuwider kämpfenden und ihm wohlgefälligen Handeln herbeiführt und sich zur Verdammung, Läuterung und Seligsprechung in Hölle, Fegefeuer und Paradies verewigt. Auch in der Messiade ist es der nächste Krieg gegen den Sohn Gottes, welcher allein den Mittelpunkt abgeben kann. Am lebendigsten jedoch und gemäßesten wird immer die Darstellung eines wirklichen Krieges selber sein, wie wir ihn bereits im Ramajana, am reichsten in der Ilias, sodann aber auch bei Ossian, in Tassos und Ariostos wie in Camões' berühmtem Gedichte finden. Im Kriege nämlich bleibt die Tapferkeit das Hauptinteresse, und die Tapferkeit ist ein Seelenzustand und eine Tätigkeit die sich weder für den lyrischen Ausdruck noch für das dramatische Handeln, sondern vorzugsweise für die epische Schilderung eignet.
Denn im Dramatischen ist die innere geistige Stärke oder Schwäche, das sittlich berechtigte oder verwerfliche Pathos die Hauptsache, im Epischen dagegen die Naturseite des Charakters. Deshalb steht die Tapferkeit bei nationalen Kriegsunternehmungen an ihrer rechten Stelle, da sie nicht eine Sittlichkeit ist, zu welcher sich der Wille durch sich selber als geistiges Bewußtsein und Wille bestimmt, sondern auf der Naturseite beruht und mit der geistigen zum unmittelbaren Gleichgewichte verschmilzt, um praktische Zwecke durchzuführen, die sich gemäßer beschreiben lassen, als sie in lyrische Empfindungen und Reflexionen gefaßt werden können. Wie mit der Tapferkeit geht es im Kriege nun auch mit den Taten selbst und ihrem Erfolge. Die Werke des Willens und die Zufälle des äußerlichen Geschehens halten einander gleichfalls die Waage. Aus dem Drama dagegen ist das bloße Geschehen mit seinen nur äußeren Hemmnissen ausgeschlossen, insofern hier das Äußerliche kein selbständiges Recht bewahren darf, sondern aus dem Zweck und den inneren Absichten der Individuen herstammen muß, so daß die Zufälligkeiten, wenn sie je eintreten und den Erfolg zu bestimmen scheinen, dennoch ihren wahren Grund und ihre Rechtfertigung in der inneren Natur der Charaktere und Zwecke sowie der Kollisionen und notwendigen Lösung derselben zu finden haben.

ββ) Mit solchen kriegerischen Zuständen als Basis der epischen Handlung scheint sich nun für das Epos eine breite Mannigfaltigkeit des Stoffs zu eröffnen; denn es lassen sich eine Menge interessanter Taten und Begebnisse vorstellen, in welchen die Tapferkeit eine Hauptrolle spielt und der äußeren Macht der Umstände und Vorfallenheiten gleichfalls ein ungeschmälertes Recht verbleibt. Dessenungeachtet ist auch hierin eine wesentliche Beschränkung für das Epos nicht zu übersehen.
Echt epischer Art nämlich sind nur die Kriege fremder Nationen gegeneinander; Dynastienkämpfe dagegen, einheimische Kriege, bürgerliche Unruhen passen sich mehr für die dramatische Darstellung.
So empfiehlt z. B. bereits Aristoteles (Poetik, c. 14) den Tragikern, solche Stoffe zu wählen, welche den Kampf eines Bruders gegen den anderen zum Inhalte haben. Von dieser Art ist der Krieg der Sieben gegen Theben. Der Sohn Thebaes selber bestürmt die Stadt, und der sie verteidigt, sein Feind, ist der eigene Bruder. Hier ist die Feindseligkeit nicht Anundfürsichseiendes, sondern beruht im Gegenteil auf der besonderen Individualität der sich bekriegenden Brüder.
Der Frieden und Einklang allein würde das substantielle Verhältnis abgeben, und nur das individuelle Gemüt mit seiner gemeinten Berechtigung trennt die notwendige Einheit. Ähnlicher Beispiele ließen sich besonders aus Shakespeares historischen Tragödien eine große Anzahl aufführen, in welchen jedesmal das Zusammenstimmen der Individuen das eigentlich Berechtigte wäre, innere Motive der Leidenschaft und Charaktere aber, die nur sich wollen und berücksichtigen, Kollisionen und Kriege herbeiführen.
Von seiten einer ähnlichen und deshalb mangelhaften epischen Handlung will ich nur an Lukans Pharsalia erinnern. So groß in diesem Gedichte auch die sich befehdenden Zwecke erscheinen mögen, so sind doch die Gegenüberstehenden sich zu nah, zu sehr durch den Boden des gleichen Vaterlandes verwandt, als daß nicht ihr Kampf, statt ein Krieg nationaler Totalitäten zu sein, zu einem bloßen Streit von Parteien würde, der jedesmal, indem er die substantielle Einheit des Volkes zerschneidet, zugleich subjektiv in tragische Schuld und in Verderben führt und außerdem die objektiven Begebnisse nicht klar und einfach läßt, sondern verworren ineinanderschlingt. Ähnlich verhält es sich auch mit Voltaires Henriade.
- Die Feindschaft fremder Nationen dagegen ist etwas Substantielles. Jedes Volk bildet für sich eine von dem anderen verschiedene und entgegengesetzte Totalität. Geraten diese nun feindlich aneinander, so ist dadurch kein sittliches Band zerrissen, nichts an und für sich Gültiges verletzt, kein notwendiges Ganzes zerstückelt; im Gegenteil, es ist ein Kampf um die unversehrte Erhaltung solcher Totalität und ihres Rechtes zur Existenz. Daß solche Feindschaft sei, ist deshalb dem substantiellen Charakter der epischen Poesie schlechthin gemäß.

γγ) Zugleich aber darf wiederum nicht jeder gewöhnliche Krieg einander feindlich gesinnter Nationen schon deshalb vorzugsweise für episch gehalten werden. Es muß noch eine dritte Seite hinzukommen; die universalhistorische Berechtigung nämlich, welche ein Volk gegen das andere herantreibt. Erst dann wird das Gemälde einer neuen höheren Unternehmung vor uns aufgerollt, die als nichts Subjektives, als keine Willkür der Unterjochung erscheinen kann, sondern durch die Begründung einer höheren Notwendigkeit in sich selber absolut ist - wie sehr auch die äußere nächste Veranlassung einerseits den Charakter einer einzelnen Verletzung, andererseits der Rache annehmen kann. Ein Analogon dieses Verhältnisses finden wir schon im Ramajana; hauptsächlich aber tritt es in der Ilias hervor, wo die Griechen gegen die Asiaten ziehen und damit die ersten sagenhaften Kämpfe des ungeheuren Gegensatzes ausfechten, dessen Kriege den welthistorischen Wendepunkt der griechischen Geschichte ausmachen. In der ähnlichen Art streitet der Cid gegen die Mauren, bei Tasso und Ariost kämpfen die Christen gegen die Sarazenen, bei Camões die Portugiesen gegen die Inder; und so sehen wir fast in allen großen Epopöen Völker, in Sitte, Religion, Sprache, überhaupt im Inneren und Äußeren verschieden, gegeneinander auftreten und beruhigen uns vollständig durch den welthistorisch berechtigten Sieg des höheren Prinzips über das untergeordnete, den eine Tapferkeit erficht, welche den Unterliegenden nichts übrigläßt.
Wollte man in diesem Sinne den Epopöen der Vergangenheit gegenüber, welche den Triumph des Abendlandes über das Morgenland, des europäischen Maßes, der individuellen Schönheit, der sich begrenzenden Vernunft über asiatischen Glanz, über die Pracht einer nicht zur vollendeten Gliederung hingelangenden patriarchalischen Einheit oder auseinanderfallenden abstrakten Verbindung schildern, nun auch an Epopöen denken, die vielleicht in Zukunft sein werden, so möchten diese nur den Sieg dereinstiger amerikanischer lebendiger Vernünftigkeit über die Einkerkerung in ein ins Unendliche fortgehendes Messen und Partikularisieren darzustellen haben.
Denn in Europa ist jetzt jedes Volk von dem anderen beschränkt und darf von sich aus keinen Krieg mit einer anderen europäischen Nation anfangen; will man jetzt über Europa hinausschicken, so kann es nur nach Amerika sein.

1) Dichtung und Wahrheit, 1. Teil, 4. Buch

2) West-östlicher Divan, Noten und Abhandlungen, "Alt-Testamentliches"

 

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