<<<Die konkrete Entwicklung der dramatischen Poesie und ihrer Arten [Die dramatische Kunst der modernen Welt]
β) Wenden wir uns jetzt sogleich zur dramatischen Kunst der modernen Welt herüber, so will ich auch hier nur im allgemeinen noch einige Hauptunterschiede näher herausstellen, welche sowohl in bezug auf das Trauerspiel als auch auf das Schauspiel und die Komödie von Wichtigkeit sind.
αα) Die Tragödie in ihrer antiken, plastischen Hoheit bleibt noch bei der Einseitigkeit stehen, das Gelten der sittlichen Substanz und Notwendigkeit zur allein wesentlichen Basis zu machen, dagegen die individuelle und subjektive Vertiefung der handelnden Charaktere in sich unausgebildet zu lassen, während die Komödie zur Vervollständigung ihrerseits in umgekehrter Plastik die Subjektivität in dem freien Ergehen ihrer Verkehrtheit und deren Auflösung zur Darstellung bringt.
Die moderne Tragödie nun nimmt in ihrem eigenen Gebiete das Prinzip der Subjektivität von Anfang an auf. Sie macht deshalb die subjektive Innerlichkeit des Charakters, der keine bloß individuelle klassische Verlebendigung sittlicher Mächte ist, zum eigentlichen Gegenstande und Inhalt und läßt in dem gleichartigen Typus die Handlungen ebenso durch den äußeren Zufall der Umstände in Kollision kommen, als die ähnliche Zufälligkeit auch über den Erfolg entscheidet oder zu entscheiden scheint. - In dieser Rücksicht sind es folgende Hauptpunkte, die wir zu besprechen haben:
erstens die Natur der mannigfaltigen Zwecke, welche als Inhalt der Charaktere zur Ausführung gelangen sollen;
zweitens die tragischen Charaktere selbst sowie die Kollisionen, denen sie unterworfen sind;
drittens die von der antiken Tragödie unterschiedene Art des Ausgangs und der tragischen Versöhnung.
Wie sehr auch im romantischen Trauerspiel die Subjektivität der Leiden und Leidenschaften, im eigentlichen Sinne dieses Worts, den Mittelpunkt abgibt, so kann dennoch im menschlichen Handeln die Grundlage bestimmter Zwecke aus den konkreten Gebieten der Familie, des Staats, der Kirche usf. nicht ausbleiben. Denn mit dem Handeln tritt der Mensch überhaupt in den Kreis der realen Besonderheit ein. Insofern aber jetzt nicht das Substantielle als solches in diesen Sphären das Interesse der Individuen ausmacht, partikularisieren sich die Zwecke einerseits zu einer Breite und Mannigfaltigkeit sowie zu einer Spezialität, in welcher das wahrhaft Wesentliche oft nur noch in verkümmerter Weise hindurchzuscheinen vermag. Außerdem erhalten diese Zwecke eine durchaus veränderte Gestalt. In dem religiösen Kreise z. B. bleiben nicht mehr die zu Götterindividuen durch die Phantasie herausgestellten besonderen sittlichen Mächte in eigener Person oder als Pathos menschlicher Heroen der durchgreifende Inhalt, sondern die Geschichte Christi, der Heiligen usf. wird dargestellt; im Staat ist es besonders das Königtum, die Macht der Vasallen, der Streit der Dynastien oder einzelner Mitglieder ein und desselben Herrscherhauses untereinander, was in bunter Verschiedenheit zum Vorschein kommt; ja weiterhin handelt es sich auch um bürgerliche und privatrechtliche und sonstige Verhältnisse, und in der ähnlichen Art tun sich auch im Familienleben Seiten hervor, welche dem antiken Drama noch nicht zugänglich waren. Denn indem sich in den genannten Kreisen das Prinzip der Subjektivität selber sein Recht verschafft hat, treten eben hierdurch in allen Sphären neue Momente heraus, die der moderne Mensch zum Zweck und zur Richtschnur seines Handelns zu machen sich die Befugnis gibt.
Andererseits ist es das Recht der Subjektivität als solcher, die sich als alleiniger Inhalt feststellt und nun die Liebe, die persönliche Ehre usf. so sehr als ausschließlichen Zweck ergreift, daß die übrigen Verhältnisse teils nur als der äußerliche Boden erscheinen können, auf welchem sich diese modernen Interessen hinbewegen, teils für sich den Forderungen des subjektiven Gemüts konfliktvoll entgegenstehen. Vertiefter noch ist es das Unrecht und Verbrechen, das der subjektive Charakter, wenn er es sich auch nicht als Unrecht und Verbrechen selber zum Zweck macht, dennoch, um sein vorgestecktes Ziel zu erreichen, nicht scheut.
Dieser Partikularisation und Subjektivität gegenüber können sich drittens die Zwecke ebensosehr wieder teils zur Allgemeinheit und umfassenden Weite des Inhalts ausdehnen, teils werden sie als in sich selber substantiell aufgefaßt und durchgeführt. In der ersten Rücksicht will ich nur an die absolute philosophische Tragödie, an Goethes Faust erinnern, in welcher einerseits die Befriedigungslosigkeit in der Wissenschaft, andererseits die Lebendigkeit des Weltlebens und irdischen Genusses, überhaupt die tragisch versuchte Vermittlung des subjektiven Wissens und Strebens mit dem Absoluten, in seinem Wesen und seiner Erscheinung, eine Weite des Inhalts gibt, wie sie in ein und demselben Werke zu umfassen zuvor kein anderer dramatischer Dichter gewagt hat. In der ähnlichen Art ist auch Schillers Karl Moor gegen die gesamte bürgerliche Ordnung und den ganzen Zustand der Welt und Menschheit seiner Zeit empört und lehnt sich in diesem allgemeinen Sinne gegen dieselbe auf. Wallenstein faßt gleichfalls einen großen allgemeinen Zweck, die Einheit und den Frieden Deutschlands, einen Zweck, den er ebensosehr durch seine Mittel, die, nur künstlich und äußerlich zusammengehalten, gerade da zerbrechen und zerfahren, wo es ihm Ernst wird, als auch durch seine Erhebung gegen die kaiserliche Autorität verfehlt, an deren Macht er mit seinem Unternehmen zerschellen muß. Dergleichen allgemeine Weltzwecke, wie sie Karl Moor und Wallenstein verfolgen, lassen sich überhaupt nicht durch ein Individuum in der Art durchführen, daß die anderen zu gehorsamen Instrumenten werden, sondern sie setzen sich durch sich selber teils mit dem Willen vieler, teils gegen und ohne ihr Bewußtsein durch. Als Beispiele einer Auffassung der Zwecke als in sich substantieller will ich nur einige Tragödien des Calderon anführen, in welchen die Liebe, Ehre usf. in Rücksicht auf ihre Rechte und Pflichten von den handelnden Individuen selbst wie nach einem Kodex für sich fester Gesetze gehandhabt wird. Auch in Schillers tragischen Figuren kommt, wenn auch auf einem ganz anderen Standpunkte, häufig das Ähnliche zunächst insofern vor, als diese Individuen ihre Zwecke zugleich im Sinne allgemeiner absoluter Menschenrechte auffassen und verfechten. So meint z. B. schon der Major Ferdinand in Kabale und Liebe die Rechte der Natur gegen die Konvenienzen der Mode zu verteidigen, und vor allem fordert Marquis Posa Gedankenfreiheit als ein unveräußerliches Gut der Menschheit.
Im allgemeinen aber ist es in der modernen Tragödie nicht das Substantielle ihres Zwecks, um dessentwillen die Individuen handeln und was sich als das Treibende in ihrer Leidenschaft bewährt, sondern die Subjektivität ihres Herzens und Gemüts oder die Besonderheit ihres Charakters dringt auf Befriedigung. Denn selbst in den eben angeführten Beispielen ist teils bei jenen spanischen Ehren- und Liebeshelden der Inhalt ihrer Zwecke an und für sich so subjektiver Art, daß die Rechte und Pflichten desselben mit den eigenen Wünschen des Herzens unmittelbar zusammenfallen können, teils erscheint in Schillers Jugendwerken das Pochen auf Natur, Menschenrechte und Weltverbesserung mehr nur als Schwärmerei eines subjektiven Enthusiasmus; und wenn Schiller in seinem späteren Alter ein reiferes Pathos geltend zu machen suchte, so geschah dies eben, weil er das Prinzip der antiken Tragödie auch in der modernen dramatischen Kunst wiederherzustellen im Sinne hatte. Um den näheren Unterschied bemerkbar zu machen, der in dieser Rücksicht zwischen der antiken und modernen Tragödie stattfindet, will ich nur auf Shakespeares Hamlet hinweisen, welchem eine ähnliche Kollision zugrunde liegt, wie sie Aischylos in den Choephoren und Sophokles in der Elektra behandelt hat. Denn auch dem Hamlet ist der Vater und König erschlagen, und die Mutter hat den Mörder geheiratet. Was aber bei den griechischen Dichtern eine sittliche Berechtigung hat, der Tod des Agamemnon, erhält dagegen bei Shakespeare die alleinige Gestalt eines verruchten Verbrechens, an welchem Hamlets Mutter unschuldig ist, so daß sich der Sohn als Rächer nur gegen den brudermörderischen König zu wenden hat und in ihm nichts vor sich sieht, was wahrhaft zu ehren wäre. Die eigentliche Kollision dreht sich deshalb auch nicht darum, daß der Sohn in seiner sittlichen Rache selbst die Sittlichkeit verletzen muß, sondern um den subjektiven Charakter Hamlets, dessen edle Seele für diese Art energischer Tätigkeit nicht geschaffen ist und, voll Ekel an der Welt und am Leben, zwischen Entschluß, Proben und Anstalten zur Ausführung umhergetrieben, durch das eigene Zaudern und die äußere Verwicklung der Umstände zugrunde geht.
Wenden wir uns zweitens deshalb jetzt zu der Seite hinüber, welche in der modernen Tragödie von hervorstechenderer Wichtigkeit ist, zu den Charakteren nämlich und deren Kollision, so ist das Nächste, was wir zum Ausgangspunkt nehmen können, kurz resümiert, folgendes: >>>
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