c. Der klassische Tempel als Ganzes
Obschon wir nun auf der einen Seite als ein Grundgesetz feststellen können, daß die Unterschiede, die soeben kurz angedeutet sind, auch in ihrer Unterscheidung zum Vorschein kommen müssen, so ist es andererseits ebensosehr notwendig, daß sie sich zu einem Ganzen vereinen. Auf diese Einigung, welche in der Architektur mehr nur ein Nebeneinandertreten und Zusammenfügen und eine durchgängige Eurhythmie des Maßes sein kann, wollen wir kurz noch zum Schluß einen Blick werfen.
Im allgemeinen geben die griechischen Tempelbauten einen befriedigenden, sozusagen sättigenden Anblick.
α) Nichts strebt empor, sondern das Ganze streckt sich geradeaus breit hin und weitet sich aus, ohne sich zu erheben. Um die Front zu überschauen, braucht sich das Auge kaum absichtlich in die Höhe zu richten, es findet sich im Gegenteil in die Breite gelockt, während die mittelalterliche deutsche Baukunst maßlos fast hinaufstrebt und sich aufwärts hebt. Bei den Alten bleibt die Breite, als feste, bequeme Begründung auf der Erde, die Hauptsache; die Höhe ist mehr von der menschlichen Höhe genommen und vermehrt sich nur nach der vermehrten Breite und Weite des Gebäudes.
β) Ferner sind die Verzierungen so angebracht, daß sie dem Eindruck der Einfachheit nicht Schaden tun. Denn auch auf die Verzierungsweise kommt viel an. Die Alten, hauptsächlich die Griechen, halten hierin das schönste Maß. Ganz einfache große Flächen und Linien z. B. erscheinen in dieser ungeteilten Einfachheit nicht so groß, als wenn einige Mannigfaltigkeit, eine Unterbrechung darauf angebracht wird, durch welche nun erst ein bestimmteres Maß fürs Auge da ist. Wird diese Teilung aber und deren Ausschmückung ganz ins Kleinliche ausgebildet, so daß man nichts als eine Vielheit und deren Kleinlichkeiten vor sich hat, so erscheinen auch die großartigsten Verhältnisse und Dimensionen zerbröckelt und zerstört. Die Alten nun arbeiten im ganzen weder darauf hin, ihre Bauten und deren Maße durch solche Mittel schlechthin größer erscheinen zu lassen, als sie in der Tat sind, noch zerteilen sie das Ganze durch Unterbrechungen und Verzierungen so, daß, weil alle Teile klein sind und eine alles wieder zusammenfassende durchgreifende Einheit fehlt, nun auch das Ganze gleichfalls klein erscheint. Ebensowenig liegen ihre vollendet schönen Werke bloß massig und gedrückt am Boden oder türmen sich gegen ihre Breite übermäßig in die Höhe, sondern halten auch in dieser Beziehung eine schöne Mitte und geben zugleich in ihrer Einfachheit einer maßvollen Mannigfaltigkeit den nötigen Spielraum. Vor allem aber scheint der Grundzug des Ganzen und seiner einfachen Besonderheiten aufs klarste durch alles und jedes hindurch und bewältigt die Individualität der Gestaltung ganz ebenso, wie in dem klassischen Ideal die allgemeine Substanz das Zufällige und Partikuläre, worin dieselbe ihre Lebendigkeit erhält, zu beherrschen und mit sich in Einklang zu bringen mächtig bleibt.
γ) Was nun die Anordnung und Gliederung des Tempels angeht, so ist in dieser Beziehung einerseits ein großer Stufengang der Ausbildung zu bemerken, andererseits blieb vieles traditionell. Die Hauptbestimmungen, die für uns hier von Interesse sein können, beschränken sich auf die von Mauern umschlossene Tempelzelle (ν?αaός) mit dem Götterbilde, ferner auf das Vorhaus (πpϱόναaος), das Hinterhaus (ο?̓πpισsϑόδdομος) und die um das ganze Gebäude herlaufenden Säulengänge. Ein Vor- und Hinterhaus mit einer vortretenden Säulenreihe hatte zuerst die Gattung, welche Vitruv αa̓μϕιπpϱόσsτtυλος nennt, wozu sodann beim πpεeϱίπpτtεeϱος noch die Säulenreihe zu jeder Seite tritt, bis endlich in höchster Steigerung sich beim δdίπpτtεeϱος diese Säulenreihe um den ganzen Tempel verdoppelt und beim υ?̔́πpαaιϑϱος auch im Innern des ναaός Säulengänge mit doppelter Säulenstellung übereinander, von den Wänden abstehend, zum Umhergehen wie bei den äußeren Säulengängen hinzukommen: eine Tempelart, für welche Vitruv als Muster den achtsäuligen Tempel der Minerva in Athen und den zehnsäuligen des olympischen Jupiter angibt. (Hirt, Geschichte der Baukunst, Bd. III, S. 14 - 18; und Bd. II, S. 151.)
Die näheren Unterschiede in Rücksicht auf die Anzahl der Säulen sowie die Abstände derselben voneinander und von den Wänden wollen wir hier übergehen und nur auf die eigentümliche Bedeutung aufmerksam machen, welche die Säulenreihen, Vorhallen usf. für den griechischen Tempelbau überhaupt haben.
In diesen Prostylen und Amphiprostylen, diesen einfachen und doppelten Säulengängen, die unmittelbar ins Freie führen, sehen wir die Menschen offen, frei umherwandeln zerstreut, zufällig sich gruppieren; denn die Säulen überhaupt sind nichts Einschließendes, sondern eine Begrenzung, die schlechthin durchgängig bleibt, so daß man halb innen, halb außen ist und wenigstens überall unmittelbar ins Freie treten kann. In derselben Weise lassen auch die langen Wände hinter den Säulen kein Gedränge nach einem Mittelpunkte zu, wohin der Blick, wenn die Gänge voll sind, sich richten könnte; im Gegenteil wird vielmehr das Auge von solchem Einheitspunkte ab nach allen Seiten hingelenkt, und statt der Vorstellung einer Versammlung zu einem Zweck sehen wir die Richtung nach außen und erhalten nur die Vorstellung eines ernstlosen, heiteren, müßigen, geschwätzigen Verweilens. Im Innern der Umschließung ist zwar ein tieferer Ernst zu vermuten, doch auch hier finden wir eine mehr oder weniger und besonders in den ausgebildetsten Bauten ganz nach außen offene Umgebung, welche darauf hindeutet, daß es auch mit diesem Ernst so streng nicht gemeint sein müsse. Und so bleibt denn auch der Eindruck dieser Tempel zwar einfach und großartig, zugleich aber heiter, offen und behaglich, indem der ganze Bau mehr auf ein Umherstehen, Hin- und Wiederwandeln, Kommen und Gehen als auf die konzentrierte innere Sammlung einer ringsum eingeschlossenen, vom Äußeren losgelösten Versammlung eingerichtet ist.
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