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Inhalt - Übersicht

Einleitung

Erster Teil.
Die Idee des Kunstschönen oder das Ideal

Stellung der Kunst im Verhältnis zur endlichen Wirklichkeit und zur Religion und Philosophie

Zweiter Teil. Entwicklung des Ideals zu den besonderen Formen des Kunstschönen

Dritter Teil.
Das System der einzelnen Künste

Vom “Ende der Kunst” >

Wie nun aber die Kunst in der Natur und den endlichen Gebieten des Lebens ihr Vor hat, ebenso hat sie auch ein Nach, ...  >>>

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Vorlesungen über die Ästhetik
                          
(1835-1838)                                                              

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c. Der Charakter

Wir gingen aus von den allgemeinen, substantiellen Mächten des Handelns.
Sie bedürfen zu ihrer Betätigung und Verwirklichung der menschlichen Individualität, in welcher sie als bewegendes Pathos erscheinen.
Das Allgemeine nun aber jener Mächte muß sich in den besonderen Individuen zur Totalität und Einzelheit in sich zusammenschließen.
Diese Totalität ist der Mensch in seiner konkreten Geistigkeit und deren Subjektivität, die menschliche totale Individualität als Charakter.
Die Götter werden zum menschlichen Pathos, und das Pathos in konkreter Tätigkeit ist der menschliche Charakter.

Dadurch macht der Charakter den eigentlichen Mittelpunkt der idealen Kunstdarstellung aus, insofern er die bisher betrachteten Seiten als Momente seiner eigenen Totalität in sich vereinigt. Denn die Idee als Ideal, d. i. für die sinnliche Vorstellung und Anschauung gestaltet und in ihrer Betätigung handelnd und sich vollbringend, ist in ihrer Bestimmtheit sich auf sich beziehende subjektive Einzelheit.
Die wahrhaft freie Einzelheit aber, wie das Ideal dieselbe erheischt, hat sich nicht nur als Allgemeinheit, sondern ebensosehr als konkrete Besonderheit und als die einheitsvolle Vermittlung und Durchdringung dieser Seiten zu erweisen, welche für sich selbst als Einheit sind. Dies macht die Totalität des Charakters aus, dessen Ideal in der reichen Kräftigkeit der sich in sich zusammenfassenden Subjektivität besteht.

Wir haben in dieser Beziehung den Charakter nach drei Seiten hin zu betrachten:

Erstens als totale Individualität, als Reichtum des Charakters in sich

Zweitens muß diese Totalität sogleich als Besonderheit und der Charakter deshalb als bestimmter erscheinen.

Drittens schließt sich der Charakter, als in sich einer, mit dieser Bestimmtheit, als mit sich selbst, in seinem subjektiven Fürsichsein zusammen und hat sich dadurch als in sich fester Charakter durchzuführen.

Diese abstrakten Gedankenbestimmungen wollen wir jetzt erläutern und der Vorstellung näherbringen.

α) Das Pathos, indem es sich innerhalb einer vollen Individualität entfaltet,
erscheint dadurch in seiner Bestimmtheit nicht mehr als das ganze und alleinige Interesse der Darstellung, sondern wird selbst nur eine, wenn auch eine Hauptseite des handelnden Charakters.
Denn der Mensch trägt nicht etwa nur einen Gott als sein Pathos in sich, sondern das Gemüt des Menschen ist groß und weit. Zu einem wahrhaften Menschen gehören viele Götter,
und er verschließt in seinem Herzen alle die Mächte, welche in dem Kreis der Götter auseinandergeworfen sind; der ganze Olymp ist versammelt in seiner Brust.
In diesem Sinne sagte ein Alter: "Aus deinen Leidenschaften hast du dir die Götter gemacht,
o Mensch!"
Und in der Tat, je gebildeter die Griechen wurden, desto mehr Götter hatten sie,
und ihre früheren Götter waren stumpfere, nicht zur Individualität und Bestimmtheit herausgestaltete Götter.

In diesem Reichtum muß sich deshalb der Charakter auch zeigen.
Das gerade macht das Interesse aus, welches wir an einem Charakter nehmen,
daß eine solche Totalität sich an ihm hervortut und er in dieser Fülle dennoch er selbst,
ein in sich abgeschlossenes Subjekt bleibt.
Ist der Charakter nicht in dieser Abrundung und Subjektivität geschildert und abstrakt nur einer Leidenschaft preisgegeben, so erscheint er außer sich oder verrückt, schwach und kraftlos.
Denn die Schwäche und Machtlosigkeit der Individuen besteht eben darin,
daß der Gehalt jener ewigen Mächte an ihnen nicht als ihr eigenstes Selbst, als Prädikate, welche ihnen als dem Subjekt der Prädikate inhärieren, zur Erscheinung kommen.

Im Homer z. B. ist jeder Held ein ganzer lebendigvoller Umfang von Eigenschaften und Charakterzügen. Achill ist der jugendlichste Held, aber seiner jugendlichen Kraft fehlen die übrigen echt menschlichen Qualitäten nicht, und Homer enthüllt uns diese Mannigfaltigkeit in den verschiedensten Situationen. Achill liebt seine Mutter, die Thetis,
er weint um die Briseïs, da sie ihm entrissen ist, und seine gekränkte Ehre treibt ihn zu dem Streite mit Agamemnon, der den Ausgangspunkt aller ferneren Begebenheiten in der Ilias ausmacht.
Dabei ist er der treuste Freund des Patroklos und Antilochos, zugleich der blühendste, feurigste Jüngling, schnellfüßig, tapfer, aber voll Ehrfurcht vor dem Alter; der treue Phönix,
der vertraute Diener, liegt zu seinen Füßen, und bei der Leichenfeier des Patroklos erweist er dem greisen Nestor die höchste Achtung und Ehre.
Ebenso zeigt sich aber Achill auch als reizbar, aufbrausend, rachsüchtig und voll härtester Grausamkeit gegen den Feind, als er den erschlagenen Hektor an seinen Wagen bindet und so den Leichnam, dreimal um Trojas Mauern jagend, nachschleppt; und dennoch erweicht er sich, als der alte Priamos zu ihm ins Zelt kommt; er gedenkt daheim des eigenen alten Vaters und reicht dem weinenden König die Hand, welche den Sohn ihm getötet hat.
Bei Achill kann man sagen: Das ist ein Mensch!
- Die Vielseitigkeit der edlen menschlichen Natur entwickelt ihren ganzen Reichtum an diesem einen Individuum. Und so ist es auch mit den übrigen Homerischen Charakteren:
Odysseus, Diomedes, Ajax, Agamemnon, Hektor, Andromache; jeder ist ein Ganzes,
eine Welt für sich, jeder ein voller, lebendiger Mensch und nicht etwa nur die allegorische Abstraktion irgendeines vereinzelten Charakterzuges.
Welch kahle, fahle, wenn auch kräftige Individualitäten sind dagegen der hörnene Siegfried,
der Hagen von Tronje und selbst Volker, der Spielmann.

Eine solche Vielseitigkeit allein gibt dem Charakter das lebendige Interesse.
Zugleich muß diese Fülle als zu einem Subjekt zusammengeschlossen erscheinen und nicht als Zerstreuung, Faselei und bloße mannigfaltige Erregbarkeit
- wie die Kinder z. B. alles in die Hand nehmen und sich ein augenblickliches Tun damit machen, aber charakterlos sind -; der Charakter im Gegenteil muß in das Verschiedenste des menschlichen Gemüts eingehen, darin sein, sein Selbst davon ausfüllen lassen und doch zugleich darin nicht steckenbleiben, vielmehr in dieser Totalität der Interessen, Zwecke, Eigenschaften, Charakterzüge die in sich zusammengenommene und gehaltene Subjektivität bewahren.

Für die Darstellung solcher totalen Charaktere eignet sich vor allem die epische Poesie, weniger die dramatische und lyrische.

β) Bei dieser Totalität als solcher nun aber kann die Kunst noch nicht stehenbleiben.
Denn wir haben es mit dem Ideal in seiner Bestimmtheit zu tun, wodurch sich die nähere Forderung der Besonderheit und Individualität des Charakters herzudrängt.
Die Handlung besonders in ihrem Konflikt und ihrer Reaktion macht den Anspruch auf Beschränkung und Bestimmtheit der Gestalt.
Deshalb sind auch die dramatischen Helden größtenteils einfacher in sich als die epischen.
Die festere Bestimmtheit nun kommt durch das besondere Pathos hervor,
das sich zum wesentlichen, hervorstechenden Charakterzuge macht und zu bestimmten Zwecken, Entschlüssen und Handlungen führt. Wird jedoch die Beschränkung wieder so weit getrieben, daß ein Individuum nur zur bloßen, in sich abstrakten Form eines bestimmten Pathos, wie Liebe, Ehre usf., ausgeleert ist, so geht darüber alle Lebendigkeit und Subjektivität verloren und die Darstellung wird - wie bei den Franzosen - häufig nach dieser Seite hin kahl und arm. Es muß deshalb in der Besonderheit des Charakters wohl eine Hauptseite als die herrschende erscheinen, innerhalb der Bestimmtheit aber die volle Lebendigkeit und Fülle bewahrt bleiben, so daß dem Individuum der Raum gelassen ist, sich nach vielen Seiten hinzuwenden, in mannigfache Situationen einzugehen und den Reichtum eines in sich gebildeten Inneren in vielfacher Äußerung zu entfalten.
Von dieser Lebendigkeit, des in sich einfachen Pathos ungeachtet, sind die Sophokleischen tragischen Gestalten.
Man kann sie in ihrer plastischen Abgeschlossenheit den Bildern der Skulptur vergleichen. Denn auch die Skulptur vermag der Bestimmtheit zum Trotz dennoch eine Vielseitigkeit des Charakters auszudrücken.
Sie stellt zwar im Gegensatz der hinaustobenden Leidenschaft, welche sich mit ganzer Kraft nur auf einen Punkt wirft, in ihrer Stille und Stummheit die kräftige Neutralität dar, die alle Mächte ruhig in sich verschließt; aber diese ungetrübte Einheit bleibt dennoch nicht bei abstrakter Bestimmtheit stehen, sondern läßt in ihrer Schönheit zugleich die Geburtsstätte von allem als die unmittelbare Möglichkeit ahnen, in die verschiedenartigsten Verhältnisse herüberzutreten.
Wir sehen in den echten Gestalten der Skulptur eine ruhige Tiefe, die das Vermögen in sich faßt, aus sich heraus alle Mächte zu verwirklichen.
Mehr noch als von der Skulptur muß von der Malerei, Musik und Poesie die innere Mannigfaltigkeit des Charakters gefordert werden und ist von den echten Künstlern auch jederzeit geleistet worden. Romeo z. B. in Shakespeares Romeo und Julia hat zu seinem Hauptpathos die Liebe; dennoch sehen wir ihn in den verschiedenartigsten Verhältnissen zu seinen Eltern, zu Freunden, seinem Pagen, in Ehrenstreitigkeiten und Zweikampf mit Tybalt,
in Ehrfurcht und Vertrauen zum Mönch und selbst am Rande des Grabes im Zwiegespräch mit dem Apotheker, von dem er sich das tödliche Gift kauft, und immer würdig und edel und von tiefer Empfindung. Ebenso umfaßt Julia eine Totalität der Verhältnisse zum Vater,
zu der Mutter, der Amme, dem Grafen Paris, dem Pater.
Und dennoch ist sie gleich tief in sich als in jede dieser Situationen hineingegraben,
und ihr ganzer Charakter wird nur von einer Empfindung, von der Leidenschaft einer Liebe durchdrungen und getragen, die so tief und weit ist als die unbegrenzte See, so daß Julia mit Recht sagen darf: "Je mehr ich gebe, je mehr auch hab ich: beides ist unendlich."
Wenn es daher auch nur ein Pathos ist, das sich darstellt, so muß es dennoch als Reichtum seiner in sich selbst sich entwickeln.
Dies ist selber im Lyrischen der Fall, wo doch das Pathos nicht zur Handlung in konkreten Verhältnissen werden kann. Auch hier nämlich muß es sich als innerer Zustand eines vollen gebildeten Gemüts dartun, das sich nach allen Seiten der Umstände und Situationen herauszukehren vermag. Lebendige Beredsamkeit, eine Phantasie, welche an alles anknüpft, Vergangenes zur Gegenwart bringt, die ganze äußere Umgebung zum symbolischen Ausdruck des Innern zu benutzen weiß, tiefe objektive Gedanken nicht scheut und in Exposition derselben einen weitreichenden, umfassenden, klaren, würdigen, edlen Geist bekundet
- dieser Reichtum des Charakters, der seine innere Welt ausspricht, ist auch in der Lyrik an seiner rechten Stelle.
Von seiten des Verstandes her betrachtet, kann freilich solche Vielseitigkeit innerhalb einer herrschenden Bestimmtheit als inkonsequent erscheinen.
Achill z. B. in seinem edlen Heldencharakter, dessen jugendliche Kraft der Schönheit den Grundzug ausmacht, hat in betreff auf den Vater und Freund ein weiches Herz; wie ist es nun möglich, ließe sich fragen, daß er Hektor in grausamer Rachsucht um die Mauern schleift?
In ähnlicher Inkonsequenz sind Shakespeares Rüpel fast durchweg geistreich und voll genialen Humors. Da kann man sagen: wie kommen so geistreiche Individuen dazu, sich mit solcher Tölpelhaftigkeit zu benehmen?
Der Verstand nämlich will sich abstrakt nur eine Seite des Charakters herausheben und zur alleinigen Regel des ganzen Menschen stempeln.
Was gegen solche Herrschaft einer Einseitigkeit streitet, kommt dem Verstande als bloße Inkonsequenz vor. Für die Vernünftigkeit des in sich Totalen und dadurch Lebendigen aber ist diese Inkonsequenz gerade das Konsequente und Rechte.
Denn der Mensch ist dies: den Widerspruch des Vielen nicht nur in sich zu tragen, sondern zu ertragen und darin sich selbst gleich und getreu zu bleiben.

γ) Deshalb aber muß der Charakter seine Besonderheit mit seiner Subjektivität zusammenschließen, er muß eine bestimmte Gestalt sein und in dieser Bestimmtheit die Kraft und Festigkeit eines sich selbst getreu bleibenden Pathos haben.
Ist der Mensch nicht in dieser Weise eins in sich, so fallen die verschiedenen Seiten der Mannigfaltigkeit sinnlos und gedankenlos auseinander.
Mit sich in Einheit zu sein macht in der Kunst gerade das Unendliche und Göttliche der Individualität aus. Nach dieser Seite hin gibt die Festigkeit und Entschiedenheit eine wichtige Bestimmung für die ideale Darstellung des Charakters ab.
Sie kommt, wie schon oben berührt ist, dadurch hervor,
daß sich die Allgemeinheit der Mächte mit der Besonderheit des Individuums durchdringt und in dieser Einigung zur in sich einheitsvollen, sich auf sich beziehenden Subjektivität und Einzelheit wird.

Bei dieser Forderung jedoch müssen wir uns gegen viele Erscheinungen besonders der neueren Kunst wenden.

In Corneilles Cid z. B. ist die Kollision der Liebe und Ehre eine glänzende Partie.
Solch in sich selbst unterschiedenes Pathos kann allerdings zu Konflikten führen;
wenn es aber als innerer Widerstreit in ein und denselben Charakter hineinverlegt wird,
so gibt dies zwar Gelegenheit zu brillanter Rhetorik und effektvollen Monologen,
doch die Entzweiung ein und desselben Gemüts, das aus der Abstraktion der Ehre in die der Liebe und umgekehrt hinüber- und herübergeworfen wird, ist der gediegenen Entschlossenheit und Einheit des Charakters in sich zuwider.

Ebenso widerspricht es der individuellen Entschiedenheit, wenn sich eine Hauptperson,
in welcher die Macht eines Pathos webt und wirkt, von einer untergeordneten Figur bestimmen und überreden läßt und nun auch die Schuld von sich ab auf andere schieben kann, wie sich die Phädra z. B. bei Racine von der Oenone bereden läßt.
Ein echter Charakter handelt aus sich selbst und läßt nicht einen Fremden in sich hinein vorstellen und Entschlüsse fassen. Hat er aber aus sich gehandelt, so will er auch die Schuld seiner Tat auf sich haben und dafür einstehen.

Eine andere Weise der Haltungslosigkeit des Charakters hat sich besonders in neueren deutschen Produktionen zu der inneren Schwäche der Empfindsamkeit ausgebildet, welche lange genug in Deutschland regiert hat.
Als nächstes berühmtes Beispiel ist der Werther anzuführen, ein durchweg krankhafter Charakter, ohne Kraft, sich über den Eigensinn seiner Liebe erheben zu können.
Was ihn interessant macht, ist die Leidenschaft und Schönheit der Empfindung,
die Verschwisterung mit der Natur bei der Ausbildung und Weiche des Gemüts.
Diese Schwäche hat später bei immer steigender Vertiefung in die gehaltlose Subjektivität der eigenen Persönlichkeit noch mannigfach andere Formen angenommen.
Die Schönseelischkeit z. B. Jacobis * in seinem Woldemar läßt sich hierher rechnen.
In diesem Roman zeigt sich die vorgelogene Herrlichkeit des Gemüts, die selbsttäuschende Vorspieglung der eigenen Tugend und Vortrefflichkeit im vollsten Maße.
Es ist eine Hoheit und Göttlichkeit der Seele, welche zur Wirklichkeit nach allen Seiten hin in ein schiefes Verhältnis tritt und, die Schwäche, den echten Gehalt der vorhandenen Welt nicht ertragen und verarbeiten zu können, vor sich selbst durch die Vornehmheit versteckt, in welcher sie alles als ihrer nicht würdig von sich ablehnt.
Denn auch für die wahrhaft sittlichen Interessen und gediegenen Zwecke des Lebens ist solch eine schöne Seele nicht offen, sondern spinnt sich in sich selber ein und lebt und webt nur in ihren subjektivsten religiösen und moralischen Ausheckungen.
Zu diesem inneren Enthusiasmus für die eigene überschwengliche Trefflichkeit, mit welcher sie vor sich selber ein großes Gepränge macht, gesellt sich dann sogleich eine unendliche Empfindlichkeit in betreff auf alle übrigen, welche diese einsame Schönheit in jedem Momente erraten, verstehen, verehren sollen. Können das nun die anderen nicht, so wird gleich das ganze Gemüt im tiefsten bewegt und unendlich verletzt.
Da ist mit einem Male die ganze Menschheit, alle Freundschaft, alle Liebe hin.
Die Pedanterie und Ungezogenheit, kleine Umstände und Ungeschicklichkeiten,
über welche ein großer starker Charakter unverletzt fortsieht, nicht ertragen zu können, übersteigt jede Vorstellung, und gerade das sachlich Geringfügigste bringt solches Gemüt in die höchste Verzweiflung.
Da nimmt denn die Trübseligkeit, der Kummer, Gram, die üble Laune, Kränkung, Schwermut und Elendigkeit kein Ende, und daheraus entspringt eine Quälerei der Reflexionen mit sich und anderen, eine Krampfhaftigkeit und selbst eine Härte und Grausamkeit der Seele, in welcher sich vollends die ganze Miserabilität und Schwäche dieser schönseelischen Innerlichkeit kundgibt. - Zu solcher Absonderlichkeit des Gemüts kann man kein Gemüt haben.
Denn zu einem echten Charakter gehört, daß er etwas Wirkliches zu wollen und anzufassen Mut und Kraft in sich trage. Das Interesse für dergleichen Subjektivitäten,
die immer nur in sich selber bleiben, ist ein leeres Interesse, wie sehr jene auch die Meinung hegen, die höheren, reineren Naturen zu sein, welche das Göttliche, das so recht in den innersten Falten stecke, in sich hervorbrächten und recht im Negligé sehen ließen.

In einer anderen Art ist dieser Mangel an innerer substantieller Gediegenheit des Charakters auch dahin ausgebildet, daß jene sonderbaren höheren Herrlichkeiten des Gemüts auf eine verkehrte Weise sind hypostasiert und als selbständige Mächte aufgefaßt worden.
Hierher gehört das Magische, Magnetische, Dämonische, die vornehme Gespenstigkeit des Hellsehens, die Krankheit des Schlafwanderns usf.
Das lebendig seinsollende Individuum wird in Rücksicht auf diese dunklen Mächte in Verhältnis zu etwas gesetzt, das einerseits in ihm selber, andererseits seinem Innern ein fremdartiges Jenseits ist, von welchem es bestimmt und regiert wird. In diesen unbekannten Gewalten soll eine unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen liegen, das sich nicht greifen und fassen lasse. Aus dem Bereiche der Kunst aber sind die dunklen Mächte gerade zu verbannen,
denn in ihr ist nichts dunkel, sondern alles klar und durchsichtig,
und mit jenen Übersichtigkeiten ist nichts als der Krankheit des Geistes das Wort geredet und die Poesie in das Nebulose, Eitle und Leere hinübergespielt, wovon Hoffmann und Heinrich von Kleist in seinem Prinzen von Homburg Beispiele liefern.
Der wahrhaft ideale Charakter hat nichts Jenseitiges und Gespensterhaftes,
sondern wirkliche Interessen, in welchen er bei sich selbst ist, zu seinem Gehalte und Pathos. Besonders das Hellsehen ist in der neueren Poesie trivial und gemein geworden.
In Schillers Tell dagegen, wenn der alte Attinghausen im Augenblick des Todes das Schicksal seines Vaterlandes verkündigt, ist solche Prophezeiung am schicklichen Orte gebraucht.
Die Gesundheit des Charakters aber mit der Krankheit des Geistes vertauschen zu müssen,
um Kollisionen hervorzubringen und Interesse zu erregen, ist immer unglücklich;
deshalb ist auch die Verrücktheit nur mit großer Vorsicht anzuwenden.

An solche Schiefheiten, welche der Einheit und Festigkeit des Charakters entgegenstehen, können wir auch noch das Prinzip der neueren Ironie sich anschließen lassen.
Diese falsche Theorie hat die Dichter verführt, in die Charaktere eine Verschiedenheit hineinzusetzen, welche in keine Einheit zusammengeht, so daß sich jeder Charakter als Charakter zerstört. Tritt ein Individuum zunächst auch in einer Bestimmtheit auf,
so soll dieselbe gerade in ihr Gegenteil überschlagen und der Charakter dadurch nichts als die Nichtigkeit des Bestimmten und seiner selbst darstellen.
Dies ist von der Ironie als die eigentliche Höhe der Kunst angenommen worden,
indem der Zuschauer nicht müsse durch ein in sich affirmatives Interesse ergriffen werden, sondern darüberzustehen habe, wie die Ironie selbst über alles hinaus ist.
- In diesem Sinne hat man denn auch Shakespearesche Charaktere erklären wollen. Lady Macbeth z. B. soll eine liebevolle Gattin von sanftem Gemüt sein, obgleich sie dem Gedanken des Mordes nicht nur Raum gibt, sondern ihn auch durchführt.
Aber Shakespeare gerade zeichnet sich durch das Entschiedene und Pralle seiner Charaktere selbst in der bloß formellen Größe und Festigkeit des Bösen aus. Hamlet ist zwar in sich unentschieden, doch nicht zweifelhaft, was, sondern nur wie er es vollbringen soll.
Jetzt jedoch machen sie auch Shakespeares Charaktere gespenstig und meinen,
daß die Nichtigkeit und Halbheit im Schwanken und Übergehen,
daß diese Quatschlichkeit eben für sich interessieren müsse.
Das Ideale aber besteht darin, daß die Idee wirklich ist, und zu dieser Wirklichkeit gehört der Mensch als Subjekt und dadurch als in sich festes Eins.

Dies mag in betreff auf die charaktervolle Individualität in der Kunst an dieser Stelle genug sein. Die Hauptsache ist ein in sich bestimmtes wesentliches Pathos in einer reichen, vollen Brust, deren innere individuelle Welt das Pathos in der Weise durchdringt,
daß diese Durchdringung und nicht nur das Pathos als solches zur Darstellung kommt. Ebensosehr aber muß sich das Pathos nicht in der Brust des Menschen in sich selber zerstören, um sich dadurch als ein selbst Unwesentliches und Nichtiges aufzuzeigen.

*) Friedrich Heinrich Jacobi, Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte, 1779

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