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Inhalt - Übersicht

Einleitung

Erster Teil.
Die Idee des Kunstschönen oder das Ideal

Stellung der Kunst im Verhältnis zur endlichen Wirklichkeit und zur Religion und Philosophie

Zweiter Teil. Entwicklung des Ideals zu den besonderen Formen des Kunstschönen

Dritter Teil.
Das System der einzelnen Künste

Vom “Ende der Kunst” >

Wie nun aber die Kunst in der Natur und den endlichen Gebieten des Lebens ihr Vor hat, ebenso hat sie auch ein Nach, ...  >>>

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Vorlesungen über die Ästhetik
                          
(1835-1838)                                                              

   Inhalt - Übersicht       

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b. Die handelnden Individuen

Bei den Götteridealen, wie wir sie soeben betrachtet haben, fällt es der Kunst nicht schwer, sich die geforderte Idealität zu bewahren.
Sobald es jedoch an das konkrete Handeln gehen soll, tritt für die Darstellung eine eigentümliche Schwierigkeit ein.
Die Götter nämlich und allgemeinen Mächte überhaupt sind zwar das Bewegende und Treibende, doch in der Wirklichkeit ist ihnen das eigentliche, individuelle Handeln nicht zuzuteilen, sondern das Handeln kommt dem Menschen zu.
Dadurch erhalten wir zwei geschiedene Seiten. Auf der einen stehen jene allgemeinen Mächte in ihrer auf sich beruhenden und deshalb abstraktere Substantialität; auf der anderen die menschlichen Individuen, denen das Beschließen und der letzte Entschluß zur Handlung sowie das wirkliche Vollbringen angehört.
Der Wahrheit nach sind die ewigen herrschenden Gewalten dem Selbst des Menschen immanent, sie machen die substantielle Seite seines Charakters aus;
insofern sie aber in ihrer Göttlichkeit selber als Individuen und damit als ausschließend aufgefaßt werden, treten sie sogleich in ein äußerliches Verhältnis zum Subjekt.
Dies bringt hier die wesentliche Schwierigkeit hervor.
Denn in diesem Verhältnis der Götter und Menschen liegt unmittelbar ein Widerspruch. Einerseits ist der Inhalt der Götter das Eigentum, die individuelle Leidenschaft, der Beschluß und der Wille des Menschen; auf der anderen Seite aber werden die Götter als an und für sich seiende, von dem einzelnen Subjekt nicht nur unabhängige, sondern als die dasselbe antreibenden und bestimmenden Gewalten aufgefaßt und herausgehoben,
so daß die gleichen Bestimmungen einmal in selbständiger göttlicher Individualität,
das andere Mal als das Eigenste der menschlichen Brust dargestellt werden.
Hierdurch erscheint sowohl die freie Selbständigkeit der Götter als auch die Freiheit der handelnden Individuen gefährdet. Hauptsächlich, wenn den Göttern die befehlende Macht zugeteilt wird, leidet darunter die menschliche Selbständigkeit, welche wir doch für das Ideale der Kunst als durchaus wesentliche Forderung aufgestellt haben.
Es ist dies dasselbe Verhältnis, das auch in christlich-religiösen Vorstellungen in Frage kommt. So heißt es z. B., der Geist Gottes führe zu Gott.
Dann aber kann das menschliche Innere als der bloß passive Boden erscheinen, auf den der Geist Gottes einwirkt, und der menschliche Wille ist in seiner Freiheit vernichtet, indem der göttliche Ratschluß dieser Wirkung für ihn gleichsam eine Art Fatum bleibt, bei welchem er nicht mit seinem eigenen Selbst dabei ist.

αa) Wird nun dies Verhältnis so gestellt, daß der handelnde Mensch dem Gott äußerlich als dem Substantiellen gegenübersteht, so bleibt die Beziehung beider ganz prosaisch.
Denn der Gott befiehlt, und der Mensch hat nur zu gehorchen.
Von der Äußerlichkeit der Götter und Menschen gegeneinander haben selbst große Dichter sich nicht freizuhalten vermocht.
Bei Sophokles beharrt Philoktet z. B., nachdem er den Trug des Odysseus zuschanden gemacht hat, bei seinem Entschluß, nicht mit nach dem Lager der Griechen zu kommen,
bis endlich Herakles als Deus ex machina auftritt und ihm befiehlt, dem Wunsche des Neoptolemos nachzugeben.
Der Inhalt dieser Erscheinung ist zwar motiviert genug, und sie selber wird erwartet;
die Wendung selber aber bleibt immer fremd und äußerlich, und in seinen edelsten Tragödien gebraucht Sophokles diese Art der Darstellung nicht, durch welche, wenn sie noch einen Schritt weitergeht, die Götter zu toten Maschinen und die Individuen zu bloßen Instrumenten einer ihnen fremden Willkür werden.

In der ähnlichen Weise kommen besonders im Epischen Einwirkungen der Götter vor,
welche der menschlichen Freiheit äußerlich erscheinen. Hermes z. B. geleitet den Priamos zum Achill; Apollo schlägt den Patroklos zwischen die Schultern und macht seinem Leben ein Ende. Ebenso werden häufig mythologische Züge so benutzt, daß sie als ein äußerliches Sein an den Individuen hervortreten. Achill z. B. ist von seiner Mutter in den Styx getaucht und dadurch bis zu den Fersen unverwundbar und unüberwindlich. Stellen wir uns dies in verständiger Weise vor,
so verschwindet alle Tapferkeit, und das ganze Heldenwesen Achills wird aus einem geistigen Charakterzuge zu einer bloß physischen Qualität.
Dem Epischen aber kann eine solche Darstellungsart weit eher erlaubt bleiben als dem Dramatischen, da im Epischen die Seite der Innerlichkeit in betreff auf die Absicht beim Durchführen der Zwecke zurücktritt und der Äußerlichkeit überhaupt einen breiteren Spielraum läßt.
Jene bloß verständige Reflexion, welche dem Dichter die Absurdität aufbürdet,
daß seine Helden keine Helden seien, muß deshalb mit höchster Vorsicht auftreten,
denn auch in solchen Zügen läßt sich, wie wir sogleich noch sehen werden, das poetische Verhältnis der Götter und Menschen bewahren.
Dagegen macht sich das Prosaische sogleich geltend, wenn außerdem die Mächte,
welche als selbständig hingestellt werden, in sich substanzlos sind und nur der phantastischen Willkür und Bizarrerie einer falschen Originalität angehören.

β) Das echt ideale Verhältnis besteht in der Identität der Götter und Menschen,
welche auch dann noch durchblicken muß, wenn die allgemeinen Mächte den handelnden Personen und deren Leidenschaften als selbständig und frei gegenübergestellt werden.
Der Inhalt der Götter nämlich muß sich sogleich als das eigene Innere der Individuen erweisen, so daß also einerseits die herrschenden Gewalten für sich individualisiert erscheinen, andererseits aber dies dem Menschen Äußere sich als das seinem Geist und Charakter Immanente zeigt.
Es bleibt deshalb die Sache des Künstlers, die Unterschiedenheit beider Seiten zu vermitteln und sie durch ein feines Band zu verknüpfen, indem er die Anfänge im menschlichen Innern bemerklich macht, ebenso aber das Allgemeine und Wesentliche, das darin waltet,
heraushebt und es für sich individualisiert zur Anschauung bringt.
Das Gemüt des Menschen muß sich in den Göttern offenbaren, welche die selbständigen allgemeinen Formen für das sind, was in seinem Inneren treibt und waltet.
Dann erst sind die Götter zugleich die Götter seiner eigenen Brust.
Hören wir z. B. bei den Alten, Venus oder Amor habe das Herz bezwungen,
so sind allerdings Venus und Amor zunächst dem Menschen äußere Gewalten,
aber die Liebe ist ebensosehr eine Regung und Leidenschaft, welche der Menschenbrust als solcher angehört und ihr eigenes Inneres ausmacht. In demselben Sinne wird häufig von den Eumeniden gesprochen. Zunächst stellen wir uns die rächenden Jungfrauen als Furien vor, welche den Verbrecher äußerlich verfolgen.
Aber diese Verfolgung ist gleichmäßig die innere Furie, welche durch die Brust des Verbrechers zieht, und Sophokles gebraucht sie auch in dem Sinne des Inneren und Eigenen des Menschen, wie sie z. B. im Ödipus auf Kolonos (v. 1434)die Erinnyen des Ödipus selber heißen und den Fluch des Vaters, die Gewalt seines verletzten Gemüts über die Söhne bedeuten.
Man hat daher recht und unrecht, die Götter überhaupt immer als entweder nur dem Menschen äußerliche oder ihm nur innerlich innewohnende Mächte zu erklären.
Denn sie sind beides.
Bei Homer geht deshalb das Tun der Götter und der Menschen stets herüber und hinüber;
die Götter scheinen das dem Menschen Fremde zu vollbringen und verrichten doch eigentlich nur dasjenige, was die Substanz seines inneren Gemütes ausmacht.
In der Ilias z. B., als Achill im Streite das Schwert gegen Agamemnon erheben will, tritt Athene hinter ihn und ergreift, allein für ihn sichtbar, sein goldgelbes Haupthaar. Hera, für Achill und Agamemnon gleichmäßig besorgt, sendet sie vom Olymp, und ihr Herzutreten erscheint von Achills Gemüt durchaus unabhängig. Andererseits aber läßt es sich leicht vorstellen,
daß die plötzlich erscheinende Athene, die Besonnenheit, welche den Zorn des Helden hemmt, innerlicher Art und das Ganze ein Begebnis sei, das in Achills Gemüt sich zuträgt.
Ja, Homer selbst deutet die wenige Verse vorher an (Ilias, I, v. 190 ff.), indem er beschreibt, wie Achill in seiner Brust beratschlagte:

ἢ` ὅ γεe ϕάσsγαaνον ὀξὺ` εe̓ϱυσsσsάμεeνος πpαaϱαà` μηϱου,
τtοὺ`ς μεè`ν αa̓ναaσsτtήσsεeιεeν, ὁ δdʼ' ʼ'Ατtϱεeίδdην εe̓ναaϱίζοι,
ἠεe χόλον πpαaύσsεeιεeν εe̓ϱητtύσsεe?έ τtεe ϑυμόν  1)

Dies innerliche Unterbrechen des Zorns, dies Hemmen, das eine dem Zorn fremde Gewalt ist, hat hier der epische Dichter, weil Achill zunächst ganz nur von Zorn erfüllt erscheint, als eine äußere Begebenheit darzustellen das volle Recht.
In ähnlicher Weise finden wir in der Odyssee die Minerva als Begleiterin des Telemach.
Diese Begleitung ist schon schwerer als eine zugleich innerliche in der Brust des Telemach zu fassen, obschon auch hier der Zusammenhang des Äußeren und Inneren nicht fehlt.
Das macht überhaupt die Heiterkeit der Homerischen Götter und die Ironie in der Verehrung derselben aus, daß ihre Selbständigkeit und ihr Ernst sich ebensosehr wieder auflösen,
insofern sie sich als die eigenen Mächte des menschlichen Gemüts dartun und dadurch den Menschen in ihnen bei sich selber sein lassen.

Doch wir brauchen uns nach einem vollständigen Beispiel der Umwandlung solcher bloß äußerlichen Göttermaschinerie in Subjektives, in Freiheit und sittliche Schönheit so weit nicht umzusehen.
Goethe hat in seiner Iphigenie auf Tauris das Bewunderungswürdigste und Schönste geleistet, was in dieser Rücksicht möglich ist. Bei Euripides raubt Orest mit Iphigenien das Bild der Diana.
Dies ist nichts als ein Diebstahl. Thoas kommt herzu und gibt den Befehl, sie zu verfolgen und das Bildnis der Göttin ihnen abzunehmen, bis dann am Ende in ganz prosaischer Weise Athene auftritt und dem Thoas innezuhalten befiehlt, da sie ohnehin Orest schon dem Poseidon empfohlen und ihr zulieb dieser ihn weit ins Meer hinausgebracht habe.
Thoas gehorcht sogleich, indem er auf die Ermahnung der Göttin erwidert (v. 1442 ff.):
"Herrin Athene, wer der Götter Worten, sie hörend, nicht gehorcht, ist nicht rechten Sinnes. Denn wie wär es mit den mächtigen Göttern zu streiten schön."

Wir sehen in diesem Verhältnis nichts als einen trockenen äußerlichen Befehl von Athenes,
ein ebenso inhaltsloses bloßes Gehorchen von Thoas' Seite. Bei Goethe dagegen wird Iphigenie zur Göttin und vertraut der Wahrheit in ihr selbst, in des Menschen Brust. In diesem Sinne tritt sie zu Thoas und sagt:

Hat denn zur unerhörten Tat der Mann
Allein das Recht? drückt denn Unmögliches
Nur er an die gewaltge Heldenbrust?

Was bei Euripides der Befehl Athenes zuwege bringt, die Umkehrung des Thoas, sucht Goethes Iphigenie durch tiefe Empfindungen und Vorstellungen, welche sie ihm entgegenhält, zu bewirken und bewirkt sie in der Tat.

Auf und ab
Steigt in der Brust ein kühnes Unternehmen:
Ich werde großem Vorwurf nicht entgehn,
Noch schwerem Übel, wenn es mir mißlingt;
Allein euch leg ich's auf die Knie! Wenn
Ihr wahrhaft seid, wie ihr gepriesen werdet,
So zeigt's durch euren Beistand und verherrlicht
Durch mich die Wahrheit! -

Und wenn ihr Thoas erwidert:

Du glaubst, es höre
Der rohe Skythe, der Barbar, die Stimme
Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus,
Der Grieche, nicht vernahm?,

so antwortet sie in zartestem, reinstem Glauben:

Es hört sie jeder,
Geboren unter jedem Himmel, dem
Des Lebens Quelle durch den Busen rein
Und ungehindert fließt. -

Nun ruft sie seine Großmut und Milde im Vertrauen auf die Höhe seiner Würde an, sie rührt und besiegt ihn und drängt ihm in menschlich-schöner Weise die Erlaubnis ab, zu den Ihrigen zurückzukehren. Denn nur dies ist nötig. Des Bildes der Göttin bedarf sie nicht und kann sich ohne List und Betrug entfernen, indem Goethe mit unendlicher Schönheit den zweideutigen Götterspruch:

"Bringst du die Schwester, die an Tauris' Ufer
Im Heiligtume wider Willen bleibt,
Nach Griechenland, so löset sich der Fluch" -

in menschlicher, versöhnender Weise dahin auslegt, daß die reine heilige Iphigenie die Schwester, das Götterbild und die Schützerin des Hauses sei.

Schön und herrlich zeigt sich mir
Der Göttin Rat,

sagt Orest zu Thoas und Iphigenie;

Gleich einem heilgen Bilde,
Daran der Stadt unwandelbar Geschick 
Durch ein geheimes Götterwort gebannt ist,
Nahm sie dich weg, dich Schützerin des Hauses;
Bewahrte dich in einer heilgen Stille
Zum Segen deines Bruders und der Deinen.
Da alle Rettung auf der weiten Erde
Verloren schien, gibst du uns alles wieder.

In dieser heilenden, versöhnenden Weise hat Iphigenie sich durch die Reinheit und sittliche Schönheit ihres innigen Gemüts schon früher in betreff auf Orestes bewährt. Ihr Erkennen versetzt ihn zwar, der keinen Glauben an Frieden mehr in seinem zerrissenen Gemüte hegt, in Raserei, aber die reine Liebe der Schwester heilt ihn ebensosehr von aller Qual der inneren Furien:

In deinen Armen faßte
Das Übel mich mit allen seinen Klauen
Zum letztenmal und schüttelte das Mark
Entsetzlich mir zusammen; dann entfloh's
Wie eine Schlange zu der Höhle. Neu
Genieß ich nun durch dich das weite Licht
Des Tages.

In dieser wie in jeder anderen Rücksicht ist die tiefe Schönheit des Gedichts nicht genug zu bewundern.

Schlimmer nun als in den antiken Stoffen steht es mit den christlichen.
In den Heiligenlegenden, überhaupt auf dem Boden der christlichen Vorstellung ist die Erscheinung Christi, Marias, anderer Heiliger usf. zwar im allgemeinen Glauben vorhanden; nebenbei aber hat die Phantasie sich in verwandten Gebieten allerlei phantastische Wesen,
als da sind Hexen, Gespenster, Geistererscheinungen und dergleichen mehr, gebildet,
bei deren Auffassung, wenn sie als dem Menschen fremde Mächte erscheinen und der Mensch haltungslos in sich ihrem Zauber, Betruge und der Gewalt ihrer Vorspiegelungen gehorcht,
die ganze Darstellung jedem Wahn und aller Willkür der Zufälligkeit kann preisgegeben werden. In dieser Beziehung besonders muß der Künstler darauf losgehen,
daß dem Menschen die Freiheit und Selbständigkeit des Entschlusses bewahrt bleibt. Shakespeare hat hierfür die herrlichsten Vorbilder geliefert.
Die Hexen im Macbeth z. B. erscheinen als äußere Gewalten, welche dem Macbeth sein Schicksal vorausbestimmen. Was sie jedoch verkünden, ist sein geheimster, eigenster Wunsch, der in dieser nur scheinbar äußeren Weise an ihn kommt und ihm offenbar wird. Schöner und tiefer noch ist die Erscheinung des Geistes im Hamlet nur als eine objektive Form von Hamlets innerer Ahnung gehandhabt.
In dem dunklen Gefühl, daß etwas Ungeheures sich müsse ereignet haben, sehen wir Hamlet auftreten; nun erscheint ihm des Vaters Geist und enthüllt ihm alle Frevel.
Auf diese mahnende Entdeckung erwarten wir, Hamlet werde die Tat sogleich kräftig bestrafen, und halten ihn vollständig zur Rache berechtigt.
Aber er zaudert und zaudert.
Man hat diese Untätigkeit dem Shakespeare zum Vorwurf gemacht und getadelt,
daß das Stück teilweise nicht wolle vom Fleck rücken.
Hamlet jedoch ist eine praktisch schwache Natur, ein schönes in sich gezogenes Gemüt,
das aus dieser inneren Harmonie herauszugehen sich schwer entschließen kann,
melancholisch, grübelnd, hypochondrisch und tiefsinnig, und deshalb nicht zu einer raschen Tat geneigt, wie denn auch Goethe an der Vorstellung festgehalten hat, daß Shakespeare habe schildern wollen: eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist.
Und in diesem Sinne findet er das Stück durchweg gearbeitet. "Hier wird ein Eichbaum",
sagt er, "in ein köstliches Gefäß gepflanzt, das nur liebliche Blumen in seinen Schoß hätte aufnehmen sollen; die Wurzeln dehnen aus, das Gefäß wird zernichtet."
Shakespeare aber bringt in Beziehung auf die Erscheinung des Geistes noch einen weit tieferen Zug an.
Hamlet zaudert, weil er dem Geist nicht blindlings glaubt.

The spirit that I have seen
May be the devil: and the devil hath power
To assume a pleasing shape; yea and perhaps
Out of my weakness and my melancholy
(As he is very potent with such spirits)
Abuse me to damn me. I'll have grounds
More relative than this: the play's the thing
Wherein I'll catch the conscience of the king. 2)

Hier sehen wir, daß die Erscheinung als solche nicht über Hamlet haltlos verfügt,
sondern daß er zweifelt und durch eigene Veranstaltungen sich Gewißheit verschaffen will,
ehe er zu handeln unternimmt.

γ) Die allgemeinen Mächte nun endlich, welche nicht nur für sich in ihrer Selbständigkeit auftreten, sondern ebensosehr in der Menschenbrust lebendig sind und das menschliche Gemüt in seinem Innersten bewegen, kann man nach den Alten mit dem Ausdruck πpάϑος bezeichnen.
Übersetzen läßt dies Wort sich schwer, denn "Leidenschaft" führt immer den Nebenbegriff des Geringen, Niedrigen mit sich, indem wir fordern, der Mensch solle nicht in Leidenschaftlichkeit geraten.
Pathos nehmen wir deshalb hier in einem höheren und allgemeineren Sinne ohne diesen Beiklang des Tadelnswerten, Eigensinnigen usf.
So ist z. B. die heilige Geschwisterliebe der Antigone ein Pathos in jener griechischen Bedeutung des Worts. Das Pathos in diesem Sinne ist eine in sich selbst berechtigte Macht des Gemüts, ein wesentlicher Gehalt der Vernünftigkeit und des freien Willens.
Orest z. B. tötet seine Mutter nicht etwa aus einer inneren Bewegung des Gemüts,
welche wir Leidenschaft nennen würden, sondern das Pathos, das ihn zur Tat antreibt,
ist wohlerwogen und ganz besonnen. In dieser Rücksicht können wir auch nicht sagen,
daß die Götter Pathos haben.
Sie sind nur der allgemeine Gehalt dessen, was in der menschlichen Individualität zu Entschlüssen und Handlungen treibt.
Die Götter als solche aber bleiben in ihrer Ruhe und Leidenschaftslosigkeit, und kommt es unter ihnen auch zum Hader und Streit, so wird es ihnen eigentlich nicht Ernst damit,
oder ihr Streit hat eine allgemeine symbolische Beziehung als ein allgemeiner Krieg der Götter. Pathos müssen wir daher auf die Handlung des Menschen beschränken und darunter den wesentlichen vernünftigen Gehalt verstehen, der im menschlichen Selbst gegenwärtig ist und das ganze Gemüt erfüllt und durchdringt.

αα) Pathos nun bildet den eigentlichen Mittelpunkt, die echte Domäne der Kunst; die Darstellung desselben ist das hauptsächlich Wirksame im Kunstwerke wie im Zuschauer.
Denn das Pathos berührt eine Saite, welche in jedes Menschen Brust widerklingt, jeder kennt das Wertvolle und Vernünftige, das in dem Gehalt eines wahren Pathos liegt, und erkennt es an. Das Pathos bewegt, weil es an und für sich das Mächtige im menschlichen Dasein ist.
In dieser Rücksicht darf das Äußere, die Naturumgebung und ihre Szenerie nur als untergeordnetes Beiwerk auftreten, um die Wirkung des Pathos zu unterstützen.
Die Natur muß deshalb wesentlich als symbolisch gebraucht werden und aus sich heraus das Pathos widertönen lassen, welches den eigentlichen Gegenstand der Darstellung ausmacht.
Die Landschaftsmalerei z. B. ist für sich schon ein geringeres Genre als die Historienmalerei, aber auch da, wo sie selbständig auftritt, muß sie an eine allgemeine Empfindung anklingen und die Form eines Pathos haben.
- Man hat in diesem Sinne gesagt, die Kunst überhaupt müsse rühren; soll aber dieser Grundsatz gelten, so fragt es sich wesentlich, wodurch die Rührung in der Kunst dürfe hervorgebracht werden. Rührung im allgemeinen ist Mitbewegung als Empfindung,
und die Menschen, besonders heutigentags, sind zum Teil leicht zu rühren.
Wer Tränen vergießt, sät Tränen, die leicht aufwachsen.
In der Kunst jedoch soll nur das in sich selbst wahrhaftige Pathos bewegen.

ββ) Das Pathos darf deshalb weder im Komischen noch im Tragischen eine bloße Torheit und subjektive Marotte sein.
Timon z. B. bei Shakespeare ist ein ganz äußerlicher Menschenfeind, die Freunde haben ihn beschmaust, sein Vermögen verschwendet, und als er nun selber Geld braucht, verlassen sie ihn. Da wird er ein leidenschaftlicher Feind der Menschen.
Das ist begreiflich und natürlich, aber kein in sich berechtigtes Pathos.
Noch mehr ist in Schillers Jugendarbeit Der Menschenfeind der ähnliche Haß eine moderne Grille.
Denn hier ist der Menschenfeind außerdem ein reflektierender, einsichtsvoller und höchst edler Mann, großmütig gegen seine Bauern, welche er aus der Leibeigenschaft entlassen hat,
und voll Liebe für seine ebenso schöne als liebenswürdige Tochter.
In der ähnlichen Art quält sich Quinctius Heymeran von Flaming in dem Roman von August Lafontaine 3)mit der Marotte von Menschenrassen usf. herum.
Hauptsächlich aber hat sich die neueste Poesie zu einer unendlichen Phantasterei und Lügenhaftigkeit hinaufgeschraubt, welche durch ihre Bizarrerie Effekt machen soll,
doch in keiner gesunden Brust widerhallt, da in solchen Raffinements der Reflexion über dasjenige, was das Wahre im Menschen sei, jeder echte Gehalt verflüchtigt ist.

Umgekehrt ist nun aber alles, was auf Lehre, Überzeugung und Einsicht in die Wahrheit derselben beruht, insofern diese Erkenntnis ein Hauptbedürfnis ausmacht, kein echtes Pathos für die Kunstdarstellung.
Von dieser Art sind wissenschaftliche Erkenntnisse und Wahrheiten.
Denn zur Wissenschaft gehört eine eigentümliche Art der Bildung, ein vielfaches Bemühen und mannigfache Kenntnis der bestimmten Wissenschaft und ihres Wertes;
das Interesse aber für diese Weise des Studiums ist keine allgemeine bewegende Macht der menschlichen Brust,
sondern beschränkt sich immer nur auf eine gewisse Anzahl von Individuen. Von gleicher Schwierigkeit ist die Behandlung rein religiöser Lehren, wenn sie nämlich ihrem innersten Gehalt nach sollen entfaltet werden.
Der allgemeine Inhalt der Religion, der Glaube an Gott usf. ist zwar ein Interesse jedes tieferen Gemüts; bei diesem Glauben jedoch kommt es von seiten der Kunst her nicht auf die Explikation der religiösen Dogmen und auf die spezielle Einsicht in ihre Wahrheit an,
und die Kunst muß sich deshalb in acht nehmen, auf solche Explikationen einzugehen.
Dagegen trauen wir der Menschenbrust jedes Pathos, alle Motive sittlicher Mächte zu,
welche für das Handeln von Interesse sind.
Die Religion betrifft mehr die Gesinnung, den Himmel des Herzens, den allgemeinen Trost und die Erhebung des Individuums in sich selbst als das eigentliche Handeln als solches.
Denn das Göttliche der Religion als Handeln ist das Sittliche und die besonderen Mächte des Sittlichen.
Diese Mächte aber betreffen, dem reinen Himmel der Religion gegenüber, das Weltliche und eigentlich Menschliche. Bei den Alten war dies Weltliche in seiner Wesentlichkeit der Inhalt der Götter, welche daher auch in bezug auf das Handeln vollständig mit in die Darstellung des Handelns eintreten konnten.

Fragen wir deshalb nach dem Umfang des hierher gehörigen Pathos, so ist die Zahl solcher substantiellen Momente des Willens gering, ihr Umfang klein. Besonders die Oper will und muß sich an einen beschränkten Kreis derselben halten, und wir hören die Klagen und Freuden, das Unglück und Glück der Liebe, Ruhm, Ehre, Heroismus, Freundschaft, Mutterliebe, Liebe der Kinder, der Gatten usf. immer wieder und wieder.

γγ) Solch ein Pathos nun erfordert wesentlich eine Darstellung und Ausmalung.
Und zwar muß es eine in sich selber reiche Seele sein, welche in ihr Pathos den Reichtum ihres Inneren einlegt und nicht nur konzentriert und intensiv bleibt, sondern sich extensiv äußert und sich zur ausgebildeten Gestalt erhebt.
Diese innere Konzentration oder Entfaltung macht einen großen Unterschied aus,
und die besonderen Volksindividualitäten sind auch in dieser Rücksicht wesentlich verschieden. Völker von gebildeter Reflexion sind beredter im Ausdruck ihrer Leidenschaft.
Die Alten z. B. waren es gewohnt, das Pathos, welches die Individuen beseelt, in seiner Tiefe auseinanderzulegen, ohne dadurch in kalte Reflexionen oder Geschwätz hineinzugeraten.
Auch die Franzosen sind in dieser Rücksicht pathetisch, und ihre Beredsamkeit der Leidenschaft ist nicht etwa nur immer ein bloßer Wortkram, wie wir Deutsche oft in der Zusammengezogenheit unseres Gemüts meinen, insofern uns das vielseitige Aussprechen der Empfindung als ein Unrecht erscheint, das derselben angetan werde.
Es gab in diesem Sinne in Deutschland eine Zeit der Poesie, in welcher besonders die jungen Gemüter, des französischen rhetorischen Wassers überdrüssig, nach Natürlichkeit Verlangen trugen und nun zu einer Kraft kamen, welche sich hauptsächlich nur in Interjektionen aussprach. Mit dem bloßen Ach und Oh jedoch oder mit dem Fluch des Zorns, mit dem Drauflosstürmen und Dreinschlagen ist die Sache nicht abzutun.
Die Kraft bloßer Interjektionen ist eine schlechte Kraft und die Äußerungsweise einer noch rohen Seele.
Der individuelle Geist, in welchem das Pathos sich darstellt, muß ein in sich erfüllter Geist sein, der sich auszubreiten und auszusprechen imstande ist.

Auch Goethe und Schiller bilden in dieser Beziehung einen auffallenden Gegensatz.
Goethe ist weniger pathetisch als Schiller und hat mehr eine intensive Weise der Darstellung; besonders in der Lyrik bleibt er in sich gehaltener; seine Lieder, wie es dem Liede geziemt, lassen merken, was sie wollen, ohne sich ganz zu explizieren.
Schiller dagegen liebt sein Pathos weitläufig, mit großer Klarheit und Schwung des Ausdrucks auseinanderzufalten.
In der ähnlichen Weise hat Claudius im Wandsbecker Boten (Bd. I, S. 153) Voltaire und Shakespeare so gegenübergestellt,
daß der eine sei, was der andere scheine:
"Meister Arouet sagt:
ich weine; und Shakespeare weint." Aber ums Sagen und Scheinen gerade - und nicht um das natürliche wirkliche Sein - ist es in der Kunst zu tun.
Wenn Shakespeare nur weinte, während Voltaire zu weinen schiene, so wäre Shakespeare ein schlechter Poet.

Das Pathos also muß, um in sich selber, wie die ideale Kunst es fordert, konkret zu sein,
als das Pathos eines reichen und totalen Geistes zur Darstellung kommen.
Dies führt uns zu der dritten Seite der Handlung, zur näheren Betrachtung des Charakters hinüber.

1) "Ob er, das schneidende Schwert alsbald von der Hüfte sich reißend,
Trennen sie sollt auseinander und niederhaun den Atreiden
Oder stillen den Zorn und die mutige Seele beherrschend." (Übers. Voss)

2) "Der Geist,
Den ich gesehen, kann ein Teufel sein;
Der Teufel hat Gewalt, sich zu verkleiden
In lockende Gestalt; ja und vielleicht,
Bei meiner Schwachheit und Melancholie
(Da er sehr mächtig ist bei solchen Geistern),
Täuscht er mich zum Verderben: ich will Grund,
Der sichrer ist. Das Schauspiel sei die Schlinge,
In die den König sein Gewissen bringe." (II, 1. Übers. Schlegel)

3) August H. J. Lafontaine, Leben und Taten des Freiherrn Quinctius Heymeran von Flaming, 4 Bde., 1795/96

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