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Inhalt - Übersicht

Einleitung

Erster Teil.
Die Idee des Kunstschönen oder das Ideal

Stellung der Kunst im Verhältnis zur endlichen Wirklichkeit und zur Religion und Philosophie

Zweiter Teil. Entwicklung des Ideals zu den besonderen Formen des Kunstschönen

Dritter Teil.
Das System der einzelnen Künste

Vom “Ende der Kunst” >

Wie nun aber die Kunst in der Natur und den endlichen Gebieten des Lebens ihr Vor hat, ebenso hat sie auch ein Nach, ...  >>>

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Vorlesungen über die Ästhetik
                          
(1835-1838)                                                              

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Äußerlichkeit des idealen Kunstwerks im Verhältnis zum Publikum c) [Bildung]

<<<c) Das Nächste, was sich im allgemeinen über diesen Punkt sagen läßt, besteht darin, daß keine der soeben betrachteten Seiten sich auf Kosten der anderen einseitig und verletzend hervortun dürfe, daß aber die bloß historische Richtigkeit in äußerlichen Dingen des Lokals, der Sitten, Gebräuche, Institutionen den untergeordneten Teil des Kunstwerks ausmache, welcher dem Interesse eines wahrhaften und auch für die Gegenwart der Bildung unvergänglichen Gehalts weichen müsse.

In dieser Rücksicht lassen sich gleichfalls der echten Art der Darstellung folgende relativ mangelhafte Auffassungsweisen gegenüberstellen.

α) Erstens kann die Darstellung der Eigentümlichkeit einer Zeit ganz getreu, richtig, lebendig und auch dem gegenwärtigen Publikum durchweg verständlich sein, ohne jedoch aus der Gewöhnlichkeit der Prosa herausgehen und in sich selber poetisch zu werden. Goethes Götz von Berlichingen z. B. gibt uns hierfür auffallende Proben. Wir brauchen nur gleich den Anfang aufzuschlagen, der uns in eine Herberge nach Schwarzenberg in Franken bringt: Metzler, Sievers am Tische; zwei Reitersknechte beim Feuer; Wirt.

SIEVERS Hänsel, noch ein Glas Branntwein, und meß christlich.

WIRT Du bist der Nimmersatt.

METZLER leise zu Sievers: Erzähl das noch einmal vom Berlichingen! Die Bamberger dort ärgern sich, sie möchten schwarz werden. - Usf.

Ebenso geht es im dritten Akt zu:

GEORG kommt mit einer Dachrinne: Da hast du Blei. Wenn du nur mit der Hälfte triffst, so entgeht keiner, der Ihro Majestät ansagen kann: Herr, wir haben schlecht bestanden.

LERSE haut davon: Ein brav Stück!

GEORG Der Regen mag sich einen andern Weg suchen! Ich bin nicht bang davor; ein braver Reiter und ein rechter Regen kommen überall durch. 

LERSE. Er gießt. Halt den Löffel. Geh ans Fenster. Da zieht so ein Reichsmusje mit der Büchse herum; sie denken, wir haben uns verschossen. Er soll die Kugel versuchen, warm, wie sie aus der Pfanne kommt. Lädt.

GEORG lehnt den Löffel an: Laß mich sehn.

LERSE schießt: Da liegt der Spatz. - Usw.1)

Das alles ist höchst anschaulich, verständlich im Charakter der Situation und der Reiter geschildert; dessenungeachtet sind diese Szenen höchst trivial und in sich selbst prosaisch, indem sie nur die ganz gewöhnliche Erscheinungsweise und Objektivität, welche allerdings jedwedem naheliegt, zum Inhalt und zur Form nehmen. Das Ähnliche findet sich auch noch in vielen anderen Jugendprodukten Goethes, welche besonders gegen alles gerichtet waren,
was bisher als Regel gegolten hatte, und ihren Haupteffekt durch die Nähe hervorbrachten, in welche sie alles zu uns durch die größte Faßbarkeit der Anschauung und Empfindung heranbrachten. Aber die Nähe war so groß und der innere Gehalt zum Teil so gering,
daß sie eben dadurch trivial wurden. Diese Trivialität merkt man hauptsächlich bei dramatischen Werken erst recht während der Aufführung, indem man sogleich beim Eintritt schon durch viele Vorbereitungen, die Lichter, die geputzten Leute, in der Stimmung ist, etwas anderes finden zu wollen als zwei Bauern, zwei Reiter und noch ein Glas Schnaps. Der Götz hat denn auch vorzugsweise beim Lesen angezogen; auf der Bühne hat er sich nicht lange erhalten können.

β) Nach der anderen Seite hin kann uns das Historische einer früheren Mythologie, das Fremdartige historischer Staatszustände und Sitten dadurch bekannt und angeeignet sein, daß wir durch die allgemeine Bildung der Zeit auch mannigfache Kenntnis von der Vergangenheit haben.
So macht z. B. die Bekanntschaft mit der Kunst und Mythologie, mit der Literatur, dem Kultus, den Gebräuchen des Altertums den Ausgangspunkt unserer heutigen Bildung aus: jeder Knabe schon kennt aus der Schule her die griechischen Götter, Heroen und historischen Figuren.
Wir können deshalb die Gestalten und Interessen der griechischen Welt, insoweit sie in der Vorstellung zu den unsrigen geworden sind, auch auf dem Boden der Vorstellung mitgenießen, und es ist nicht zu sagen, weshalb wir es nicht mit der indischen oder ägyptischen und skandinavischen Mythologie ebensoweit sollten bringen können. Außerdem ist in den religiösen Vorstellungen dieser Völker das Allgemeine, Gott, auch vorhanden. Das Bestimmte aber, die besonderen griechischen oder indischen Gottheiten, haben keine Wahrheit mehr für uns, wir glauben nicht mehr daran und lassen sie uns nur für unsere Phantasie gefallen. Dadurch bleiben sie aber unserem eigentlichen tieferen Bewußtsein immer fremd, und es ist nichts so leer und kalt, als wenn es in den Opern z. B. heißt: "O ihr Götter!" oder: "O Jupiter!" oder gar: "O Isis und Osiris!" - vollends aber, wenn noch die Elendigkeit der Orakelsprüche - und selten geht es ohne Orakel ab in der Oper - hinzukommt, an deren Stelle jetzt erst in der Tragödie die Verrücktheit und das Hellsehen treten.

Ganz ebenso verhält es sich mit dem anderweitigen historischen Material der Sitten, Gesetze usf. Auch dies Geschichtliche ist wohl, aber es ist gewesen, und wenn es mit der Gegenwart des Lebens keinen Zusammenhang mehr hat, so ist es, mögen wir es noch so gut und genau kennen, nicht das Unsrige; für das Vorübergegangene aber haben wir nicht aus dem bloßen Grunde schon, daß es einmal dagewesen ist, Interesse. Das Geschichtliche ist nur dann das Unsrige, wenn es der Nation angehört, der wir angehören, oder wenn wir die Gegenwart überhaupt als eine Folge derjenigen Begebenheiten ansehen können, in deren Kette die dargestellten Charaktere oder Taten ein wesentliches Glied ausmachen. Denn auch der bloße Zusammenhang des gleichen Bodens und Volks reicht nicht letztlich aus, sondern die Vergangenheit selbst des eigenen Volks muß in näherer Beziehung zu unserem Zustand, Leben und Dasein stehen.

In dem Nibelungenlied z. B. sind wir zwar geographisch auf einheimischem Boden, aber die Burgunder und König Etzel sind so sehr von allen Verhältnissen unserer gegenwärtigen Bildung und deren vaterländischen Interessen abgeschnitten, daß wir selbst ohne Gelehrsamkeit in den Gedichten Homers uns weit heimatlicher empfinden können. So ist Klopstock zwar durch den Trieb nach Vaterländischem veranlaßt worden, an die Stelle der griechischen Mythologie die skandinavischen Götter zu setzen, aber Wodan, Walhalla und Freia sind bloße Namen geblieben, die weniger noch als Jupiter und der Olymp unserer Vorstellung angehören oder zu unserem Gemüte sprechen.

In dieser Beziehung haben wir uns klarzumachen, daß Kunstwerke nicht für das Studium und die Gelehrsamkeit zu verfertigen sind, sondern daß sie ohne diesen Umweg weitläufiger entlegener Kenntnisse unmittelbar durch sich selber verständlich und genießbar sein müssen. Denn die Kunst ist nicht für einen kleinen abgeschlossenen Kreis weniger vorzugsweise Gebildeter, sondern für die Nation im großen und ganzen da. Was aber für das Kunstwerk überhaupt gilt, findet auf die Außenseite der dargestellten geschichtlichen Wirklichkeit gleiche Anwendung. Auch sie muß uns, die wir auch zu unserer Zeit und unserem Volke gehören, ohne breite Gelehrsamkeit klar und erfaßbar sein, so daß wir darin heimisch zu werden vermögen und nicht vor ihr als vor einer uns fremden und unverständlichen Welt stehenzubleiben genötigt sind.

γ) Hierdurch nun sind wir der echten Weise der Objektivität und Aneignung von Stoffen aus vergangenen Zeiten schon nähergerückt.

αα) Das erste, was wir hier anführen können, betrifft die echten Nationalgedichte, welche seit jeher bei allen Völkern von der Art gewesen sind, daß die äußere, geschichtliche Seite durch sich selber schon der Nation angehörte und ihr nichts Fremdes blieb. So ist es mit den indischen Epopöen, den Homerischen Gedichten und der dramatischen Poesie der Griechen. Sophokles hat den Philoktet, die Antigone, den Ajax, Orest, Ödipus und seine Chorführer und Chöre nicht so reden lassen, als sie zu ihrer Zeit würden gesprochen haben. In der gleichen Weise haben die Spanier ihre Romanzen vom Cid; Tasso in seinem Befreiten Jerusalem besang die allgemeine Angelegenheit der katholischen Christenheit; Camões, der portugiesische Dichter, schildert die Entdeckung des Seewegs nach Ostindien um das Vorgebirge der Guten Hoffnung, die in sich unendlich wichtigen Taten der Seehelden, und diese Taten waren die Taten seiner Nation; Shakespeare dramatisierte die tragische Geschichte seines Landes, und Voltaire selbst machte seine Henriade. Auch wir Deutsche sind doch endlich davon abgekommen, entfernte Geschichten, die für uns kein nationales Interesse mehr haben, zu nationalen epischen Gedichten verarbeiten zu wollen. Bodmers Noachide2) und Klopstocks Messias sind aus der Mode, wie denn auch die Meinung nicht mehr gilt, es gehöre zur Ehre einer Nation, auch ihren Homer und außerdem ihren Pindar, Sophokles und Anakreon zu haben. Jene biblischen Geschichten liegen zwar unserer Vorstellung durch die Vertrautheit mit dem Alten und Neuen Testamente näher, aber das Geschichtliche der äußeren Gebräuche bleibt uns doch immer nur eine fremde Sache der Gelehrsamkeit, und eigentlich liegt als das Bekannte nur der prosaische Faden der Begebenheiten und Charaktere vor uns, welche durch die Bearbeitung mehr nur in neue Phrasen gestoßen werden, so daß wir in dieser Beziehung nichts als das Gefühl eines bloß Gemachten erhalten.

ββ) Nun kann sich aber die Kunst nicht allein auf einheimische Stoffe beschränken und hat sich in der Tat, je mehr die besonderen Völker miteinander in Berührung traten, ihre Gegenstände immer weiter aus allen Nationen und Jahrhunderten hergenommen. Geschieht dies, so ist es nicht etwa als eine große Genialität anzusehen, daß sich der Dichter ganz in fremde Zeiten hineinlebt, sondern die geschichtliche Außenseite muß so in der Darstellung auf der Seite gehalten werden, daß sie zur unbedeutenden Nebensache für das Menschliche, Allgemeine wird. In solcher Weise z. B. hat schon das Mittelalter zwar Stoffe des Altertums entlehnt, doch den Gehalt seiner eigenen Zeit hineingelegt und nun freilich wieder in extremer Weise nichts als den bloßen Namen Alexanders oder des Äneas und Kaisers Oktavianus übriggelassen.

Das allererste ist und bleibt die unmittelbare Verständlichkeit, und wirklich haben auch alle Nationen sich in dem geltend gemacht, was ihnen als Kunstwerk zusagen sollte, denn sie wollten einheimisch, lebendig und gegenwärtig darin sein. In dieser selbständigen Nationalität hat Calderon seine Zenobia und Semiramis bearbeitet und Shakespeare den verschiedenartigsten Stoffen einen englischen nationalen Charakter einzuprägen verstanden, obschon er den wesentlichen Grundzügen nach bei weitem tiefer als die Spanier auch den geschichtlichen Charakter fremder Nationen, wie z. B. der Römer, zu bewahren wußte.
Selbst die griechischen Tragiker haben das Gegenwärtige ihrer Zeit und der Stadt, der sie angehörten, im Auge gehabt. Der Ödipus auf Kolonos z. B. hat nicht nur in Rücksicht auf das Lokal einen näheren Bezug auf Athen, sondern auch dadurch, daß Ödipus in diesem Lokal sterbend ein Hort für Athen werden sollte. In anderen Beziehungen haben auch die Eumeniden des Aischylos durch die Entscheidung des Areopags ein näheres heimisches Interesse für die Athenienser. Dagegen hat die griechische Mythologie, wie mannigfaltig sie auch und immer von neuem wieder seit dem Wiederaufleben der Künste und Wissenschaften ist benutzt worden, nie bei den modernen Völkern vollkommen einheimisch werden wollen und ist mehr oder weniger selbst in den bildenden Künsten und  mehr noch in der Poesie - ihrer weiten Ausbreitung unerachtet - kalt geblieben. Es wird z. B. keinem Menschen jetzt einfallen, ein Gedicht an Venus, Jupiter oder Pallas zu machen. Die Skulptur zwar kann immer noch nicht ohne die griechischen Götter auskommen, aber ihre Darstellungen sind deshalb auch größtenteils nur Kennern, Gelehrten und dem engeren Kreise der Gebildetesten zugänglich und verständlich.
In dem ähnlichen Sinne hat Goethe sich viel Mühe gegeben, die Philostratischen Gemälde den Malern zu näherer Beherzigung und Nachbildung vorstellig zu machen, doch hat er wenig damit ausgerichtet; dergleichen antike Gegenstände in ihrer antiken Gegenwart und Wirklichkeit bleiben dem modernen Publikum wie den Malern immer etwas Fremdes. Dagegen ist es Goethe selber in einem weit tieferen Geiste gelungen, durch seinen West-östlichen Divan noch in den späteren Jahren seines freien Innern den Orient in unsere heutige Poesie hineinzuziehen und ihn der heutigen Anschauung anzueignen. Bei dieser Aneignung hat er sehr wohl gewußt, daß er ein westlicher Mensch und ein Deutscher sei, und so hat er wohl den morgenländischen Grundton in Rücksicht auf den östlichen Charakter der Situationen und Verhältnisse durchweg angeschlagen, ebensosehr aber unserem heutigen Bewußtsein und seiner eigenen Individualität das vollständigste Recht widerfahren lassen. In dieser Weise ist es dem Künstler allerdings erlaubt, seine Stoffe aus fernen Himmelsstrichen, vergangenen Zeiten und fremden Völkern zu entlehnen und auch im ganzen und großen der Mythologie, den Sitten und Institutionen ihre historische Gestalt zu bewahren; zugleich aber muß er diese Gestalten nur als Rahmen seiner Gemälde benutzen, das Innere dagegen dem wesentlichen tieferen Bewußtsein seiner Gegenwart in einer Art anpassen, als deren bewunderungswürdigstes Beispiel bis jetzt noch immer Goethes Iphigenie dasteht.

In betreff auf solche Umwandlung erhalten wieder die einzelnen Künste eine ganz verschiedene Stellung. Die Lyrik bedarf z. B. in Liebesgedichten am wenigsten der äußerlichen, historisch genau geschilderten Umgebung, indem ihr die Empfindung, die Bewegung des Gemüts für sich die Hauptsache ist. Von der Laura selbst z. B. erhalten wir durch Petrarcas Sonette in dieser Beziehung nur eine sehr geringe Kunde, fast nur den Namen, der ebensosehr auch könnte ein anderer sein; von dem Lokal usf. ist nur das Allgemeinste, der Quell von Vaucluse und dergleichen, angegeben. Das Epische dagegen fordert die meiste Ausführlichkeit, welche wir uns denn auch in Ansehung jener historischen Äußerlichkeiten, wenn sie nur klar und verständlich ist, am leichtesten gefallen lassen. Die gefährlichste Klippe aber sind diese Außenseiten für die dramatische Kunst, besonders bei Theateraufführungen, wo alles unmittelbar zu uns gesprochen wird oder lebendig an unsere sinnliche Anschauung kommt,
so daß wir ebenso unmittelbar uns darin bekannt und vertraut finden wollen.
Hier muß die Darstellung der historischen äußeren Wirklichkeit deshalb am meisten untergeordnet und ein bloßer Rahmen bleiben; es muß gleichsam nur dasselbe Verhältnis beibehalten werden, das wir in Liebesgedichten finden, in welchen der Geliebten,
obschon wir mit den ausgesprochenen Empfindungen und der Art ihres Ausdrucks vollständig sympathisieren können, ein unserer eigenen Geliebten fremder Name gegeben ist.
Es heißt da gar nichts, wenn die Gelehrten die Richtigkeit der Sitten, der Bildungsstufe,
der Gefühle vermissen. In Shakespeares historischen Stücken z. B. ist für uns vieles, was uns fremd bleibt und wenig interessieren kann. Beim Lesen sind wir zwar damit zufrieden, im Theater nicht. Die Kritiker und Kenner meinen allerdings, dergleichen historische Kostbarkeiten sollten ihretwegen mit zur Darstellung kommen, und schimpfen dann über den schlechten, verdorbenen Geschmack des Publikums, wenn es bei solchen Dingen seine Langeweile zu erkennen gibt; das Kunstwerk aber und sein unmittelbarer Genuß ist nicht für die Kenner und Gelehrten, sondern für das Publikum, und die Kritiker brauchen nicht so vornehm zu tun, denn auch sie gehören zu demselben Publikum, und ihnen selber kann die Genauigkeit in historischen Einzelheiten kein ernstes Interesse sein. In diesem Sinne geben jetzt z. B. die Engländer aus Shakespeareschen Stücken nur die Szenen, welche an und für sich vortrefflich und aus sich selber verständlich sind, indem sie nicht den Pedantismus unserer Ästhetiker haben, daß dem Volke alle die fremdgewordenen Äußerlichkeiten, an denen es keinen Anteil mehr nehmen kann, vor Augen gebracht werden sollen. Werden daher fremde dramatische Werke in Szene gesetzt, so hat jedes Volk ein Recht, Umarbeitungen zu verlangen. Auch das Vortrefflichste bedarf in dieser Rücksicht einer Umarbeitung. Man könnte zwar sagen, das eigentlich Vortreffliche müsse für alle Zeiten vortrefflich sein, aber das Kunstwerk hat auch eine zeitliche, sterbliche Seite, und diese ist es, mit welcher eine Änderung vorzunehmen ist. Denn das Schöne erscheint für andere, und diejenigen, für welche es zur Erscheinung gebracht wird, müssen in dieser äußeren Seite der Erscheinung zu Hause sein können.

In dieser Aneignung nun findet alles dasjenige seinen Grund und seine Entschuldigung, was man in der Kunst Anachronismen zu nennen und den Künstlern gewöhnlich als einen großen Fehler anzurechnen pflegt. Zu solchen Anachronismen gehören zunächst bloße Äußerlichkeiten. Wenn Falstaff z. B. von Pistolen spricht, so ist dies gleichgültig. Schlimmer schon wird es, wenn Orpheus mit einer Violine in der Hand dasteht, indem hier der Widerspruch mythischer Tage und solch eines modernen Instruments, von dem jeder weiß, daß es in so früher Zeit noch nicht erfunden war, allzu grell hervortritt. Man nimmt sich deshalb jetzt auch auf Theatern z. B. mit solchen Dingen erstaunlich in acht, und die Direktionen halten in Kostüm und Ausstattung sehr auf historische Treue, wie z. B. der Zug in der Jungfrau von Orleans auch von dieser Seite viele Mühe gekostet hat, eine Mühe, welche jedoch überhaupt in den meisten Fällen verschwendet ist, indem sie nur das Relative und Gleichgültige betrifft. Die wichtigere Art der Anachronismen besteht nicht in den Trachten und anderweitigen ähnlichen Äußerlichkeiten, sondern darin, daß in einem Kunstwerke die Personen in der Art sich aussprechen, Empfindungen und Vorstellungen äußern, Reflexionen anstellen, Handlungen begehen, welche sie ihrer Zeit und Bildungsstufe, ihrer Religion und Weltanschauung nach unmöglich haben und ausführen konnten. Auf diese Art des Anachronismus wendet man gewöhnlich die Kategorie der Natürlichkeit an und meint, es sei unnatürlich, wenn die dargestellten Charaktere nicht so reden und handeln, als sie zu ihrer Zeit würden geredet und gehandelt haben. Die Forderung aber solcher Natürlichkeit, einseitig festgehalten, führt sogleich zu Schiefheiten. Denn der Künstler, wenn er das menschliche Gemüt mit seinen Affekten und in sich substantiellen Leidenschaften schildert, darf dies bei aller Bewahrung der Individualität dennoch nicht so schildern, wie sie im gewöhnlichen Leben alltäglich vorkommen, da er jedes Pathos nur in einer demselben schlechthin gemäßen Erscheinung ans Licht fördern soll. Dafür allein ist er Künstler, daß er das Wahrhafte kenne und in seiner wahren Form vor unsere Anschauung und Empfindung bringe. Bei diesem Ausdruck hat er deshalb die jedesmalige Bildung seiner Zeit, Sprache usf. zu berücksichtigen. Zur Zeit des Trojanischen Kriegs ist die Ausdrucksart und ganze Lebensweise ebensowenig von einer Ausbildung gewesen, wie wir sie in der Ilias wiederfinden, als die Masse des Volks und die hervorragenden Gestalten der griechischen Königsfamilien eine so ausgebildete Anschauungs- und Ausdrucksweise hatten, wie wir sie im Aischylos oder in der vollendeten Schönheit des Sophokles bewundern müssen. Eine solche Verletzung der sogenannten Natürlichkeit ist ein für die Kunst notwendiger Anachronismus. Die innere Substanz des Dargestellten bleibt dieselbe, aber die entwickelte Bildung macht für den Ausdruck und die Gestalt eine Umwandlung nötig.
Ganz anders freilich stellt sich die Sache, wenn Anschauungen und Vorstellungen einer späteren Entwicklung des religiösen und sittlichen Bewußtseins auf eine Zeit oder Nation übertragen werden, deren ganze Weltanschauung solchen neueren Vorstellungen widerspricht. So hat die christliche Religion Kategorien des Sittlichen zur Folge gehabt, welche den Griechen durchaus fremd waren. Die innere Reflexion z. B. des Gewissens bei der Entscheidung dessen, was gut und schlecht sei, Gewissensbisse und Reue gehören erst der moralischen Ausbildung der modernen Zeit an; der heroische Charakter weiß von der Inkonsequenz der Reue nichts; was er getan hat, das hat er getan. Orest hat um des Muttermordes willen keine Reue, die Furien der Tat verfolgen ihn zwar, aber die Eumeniden sind zugleich als allgemeine Mächte und nicht als die inneren Nattern seines nur subjektiven Gewissens dargestellt. Diesen substantiellen Kern einer Zeit und eines Volkes muß der Dichter kennen, und erst wenn er in diesen innersten Mittelpunkt Entgegenstrebendes und Widersprechendes hineinsetzt, hat er einen Anachronismus höherer Art begangen. In dieser Rücksicht also ist an den Künstler die Forderung zu machen, daß er sich in den Geist vergangener Zeiten und fremder Völker hineinlebe, denn dies Substantielle, wenn es echter Art ist, bleibt allen Zeiten klar; die partikuläre Bestimmtheit aber der bloß äußeren Erscheinung im Roste des Altertums mit aller Genauigkeit des einzelnen nachbilden zu wollen ist nur eine kindische Gelehrsamkeit um eines selbst nur äußerlichen Zweckes willen. Zwar ist auch nach dieser Seite hin wohl eine allgemeine Richtigkeit zu verlangen, welcher jedoch das Recht, zwischen Dichtung und Wahrheit zu schweben, nicht darf geraubt werden.

γγ) Hiermit sind wir zu der wahren Aneignungsweise des Fremdartigen und Äußeren einer Zeit und zur wahren Objektivität des Kunstwerks durchgedrungen. Das Kunstwerk muß uns die höheren Interessen des Geistes und Willens, das in sich selber Menschliche und Mächtige, die wahren Tiefen des Gemüts aufschließen; und daß dieser Gehalt durch alle Äußerlichkeiten der Erscheinung durchblicke und mit seinem Grundton durch all das anderweitige Getreibe hindurchklinge, das ist die Hauptsache, um welche es sich wesentlich handelt. Die wahre Objektivität enthüllt uns also das Pathos, den substantiellen Gehalt einer Situation und die reiche, mächtige Individualität, in welcher die substantiellen Momente des Geistes lebendig sind und zur Realität und Äußerung gebracht werden. Für solchen Gehalt ist dann nur überhaupt eine anpassende, für sich selber verständliche Umgrenzung und bestimmte Wirklichkeit zu fordern. Ist solch ein Gehalt gefunden und im Prinzip des Ideals entfaltet, so ist ein Kunstwerk an und für sich objektiv, sei nun auch das äußerlich Einzelne historisch richtig oder nicht.
Dann spricht auch das Kunstwerk an unsere wahre Subjektivität und wird zu unserem Eigentum. Denn mag dann auch der Stoff seiner näheren Gestalt nach aus längst entflohenen Zeiten genommen sein, die bleibende Grundlage ist das Menschliche des Geistes, welches das wahrhaft Bleibende und Mächtige überhaupt ist und seine Wirkung nicht verfehlen kann,
da diese Objektivität auch den Gehalt und die Erfüllung unseres eigenen Innern ausmacht.
Das bloß historisch Äußere dagegen ist die vergängliche Seite, und mit dieser müssen wir uns bei fernliegenden Kunstwerken zu versöhnen suchen und selbst bei Kunstwerken der eigenen Zeit darüber wegzusehen wissen. So sind die Psalmen Davids mit ihrer glänzenden Feier des Herrn in der Güte und dem Zorn seiner Allmacht sowie der tiefe Schmerz der Propheten trotz Babylon und Zion uns noch heute passend und gegenwärtig, und selbst eine Moral, wie Sarastro sie in der Zauberflöte singt, wird sich jeder zusamt den Ägyptern bei dem inneren Kern und Geiste ihrer Melodien gefallen lassen.

Solcher Objektivität eines Kunstwerks gegenüber muß deshalb nun auch das Subjekt die falsche Forderung aufgeben, sich selbst mit seinen bloß subjektiven Partikularitäten und Eigenheiten vor sich haben zu wollen. Als Wilhelm Tell zum erstenmal in Weimar aufgeführt wurde, war kein Schweizer damit zufrieden. In ähnlicher Weise sucht mancher auch in den schönsten Gesängen der Liebe vergebens seine eigenen Empfindungen und erklärt deshalb die Darstellung für ebenso falsch, als andere, welche die Liebe nur aus Romanen kennen, nun in der Wirklichkeit nicht eher verliebt zu sein meinen, ehe sie nicht in sich und um sich her ganz dieselben Gefühle und Situationen wiederfinden.

1) Hegel (bzw. Hotho) zitiert den von der Fassung von leicht abweichenden Text der Ausgabe bei Göschen, Goethes Schriften, 2 Bde., 1787, und bei Cotta, Goethes Werke, 8 Bde., 1828

2) Johann Jakob Bodmer, Noa ein Heldengedicht, 1750

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