Äußerlichkeit des idealen Kunstwerks im Verhältnis zum Publikum [Bildung]
<<<β) Auf der anderen Seite kann die gleiche Subjektivität aus dem Hochmut der Bildung hervorgehen, indem sie ihre eigenen Zeitansichten, Sitten, gesellige Konventionen als die allein gültigen und annehmbaren betrachtet und deshalb keinen Inhalt zu genießen imstande ist, bevor er nicht die Form der gleichen Bildung angenommen hat. Von dieser Art war der sogenannte klassische gute Geschmack der Franzosen. Was sie ansprechen sollte, mußte französiert sein; was andere Nationalität und besonders mittelalterliche Gestalt hatte, hieß geschmacklos, barbarisch und wurde verachtungsvoll abgewiesen. Mit Unrecht hat deshalb Voltaire gesagt, daß die Franzosen die Werke der Alten verbessert hätten; sie haben sie nur nationalisiert, und bei dieser Verwandlung verfuhren sie mit allem Fremdartigen und Individuellen um so unendlich ekler, als ihr Geschmack eine vollkommen hofmäßige soziale Bildung, Regelmäßigkeit und konventionelle Allgemeinheit des Sinnes und der Darstellung forderte. Die gleiche Abstraktion einer delikaten Bildung übertrugen sie in ihrer Poesie auch auf die Diktion. Kein Poet durfte cochon sagen oder Löffel und Gabel und tausend andere Dinge nennen. Daher die breiten Definitionen und Umschreibungen, statt Löffel oder Gabel z. B. ein Instrument, mit dem man flüssige oder trockene Speisen an den Mund bringt, und dergleichen mehr. Eben damit aber blieb ihr Geschmack höchst borniert; denn die Kunst, statt ihren Inhalt zu solchen abgeschliffenen Allgemeinheiten plattzuschlagen und auszuglätten, partikularisiert ihn vielmehr zu lebendiger Individualität. Die Franzosen haben sich deshalb am wenigsten mit Shakespeare vertragen können und, wenn sie ihn bearbeiteten, das gerade jedesmal fortgeschnitten, was uns an ihm das Liebste sein würde. Ebenso macht sich Voltaire über Pindar lustig, daß er sagen konnte: ἄϱισsτtον μεè`ν ὕδdωϱ. Und so müssen denn auch in ihren Kunstwerken Chinesen, Amerikaner oder griechische und römische Helden ganz wie französische Hofleute reden und sich aufführen. Der Achill z. B. in der Iphigénie en Aulide ist durch und durch ein französischer Prinz, und stände nicht der Name dabei, so würde keiner in ihm einen Achilleus wiederfinden. Bei den Theaterdarstellungen zwar war er griechisch gekleidet und mit Helm und Panzer versehen, aber zugleich mit gepudertem frisiertem Haar, breiten Hüften durch Poschen, mit roten Talons an den mit farbigen Bändern geknüpften Schuhen; und Racines Esther ward zu Ludwig XIV. Zeiten vornehmlich deshalb besucht, weil Ahasverus bei seinem Auftreten ganz ebenso erschien wie Ludwig XIV. selber, wenn er in den großen Audienzsaal eintrat; Ahasverus freilich mit orientalischer Beimischung, aber ganz gepudert und im königlichen Hermelinmantel, und hinter ihm die ganze Masse von frisierten und gepuderten Kammerherren en habit français mit Haarbeuteln, Federhüten im Arm, Westen und Hosen von drap d'or, in seidenen Strümpfen und mit roten Absätzen an den Schuhen. Wozu nur der Hof und besonders Privilegierte gelangen konnten, das sahen hier auch die übrigen Stände - die entrée des Königs, in Verse gebracht. - In dem ähnlichen Prinzip wird in Frankreich häufig die Geschichtsschreibung nicht um ihrer selbst und ihres Gegenstandes willen getrieben, sondern des Zeitinteresses wegen, um etwa der Regierung gute Lehren zu geben oder sie verhaßt zu machen. Ebenso enthalten viele Dramen entweder ausdrücklich ihrem ganzen Inhalte nach oder nur gelegentlich Anspielungen auf die Zeitumstände, oder wenn in älteren Stücken dergleichen beziehungsvolle Stellen vorkommen, werden sie absichtlich hervorgezogen und mit größtem Enthusiasmus aufgenommen.
γ) Als eine dritte Weise der Subjektivität können wir die Abstraktion von allem eigentlich wahrhaftigen Kunstgehalt der Vergangenheit und Gegenwart angeben, so daß dem Publikum nur dessen eigene zufällige Subjektivität, wie sie geht und steht, in ihrem gewöhnlichen gegenwärtigen Tun und Treiben vorgeführt wird. Diese Subjektivität heißt alsdann nichts anderes als die eigentümliche Weise des alltäglichen Bewußtseins im prosaischen Leben. Darin allerdings ist jeder sogleich zu Hause, und nur wer mit Kunstforderungen an solch ein Werk herantritt, kann nicht darin heimisch werden, denn von dieser Art der Subjektivität soll uns die Kunst gerade befreien. Kotzebue z. B. hat durch dergleichen Darstellungen zu seiner Zeit nur deshalb so großen Effekt gemacht, daß "unser Jammer und Not, das Einstecken von silbernen Löffeln, das Wagen des Prangers", daß ferner "Pfarrer, Kommerzienräte, Fähndriche, Sekretärs oder Husarenmajors" vor die Augen und Ohren des Publikums gebracht wurden und nun jeder seine eigene Häuslichkeit oder die eines Bekannten und Verwandten usf. vor sich sah oder überhaupt erfuhr, wo ihn in seinen partikulären Verhältnissen und besonderen Zwecken der Schuh drückt. Solcher Subjektivität fehlt in ihr selber die Erhebung zur Empfindung und Vorstellung desjenigen, was den echten Inhalt des Kunstwerks ausmacht, wenn sie auch vermag, das Interesse ihrer Gegenstände auf die gewöhnlichen Forderungen des Herzens und auf sogenannte moralische Gemeinplätze und Reflexionen zurückzuführen. Nach allen diesen drei Gesichtspunkten hin ist die Darstellung der äußeren Verhältnisse in einseitiger Weise subjektiv und läßt der wirklichen objektiven Gestalt gar kein Recht widerfahren.
b) Die zweite Auffassungsart dagegen tut das Entgegengesetzte, indem sie sich bemüht, die Charaktere und Begebnisse der Vergangenheit soviel als möglich in ihrem wirklichen Lokal sowie in den partikulären Eigentümlichkeiten der Sitten und sonstigen Äußerlichkeiten wiederzugeben. Nach dieser Seite haben besonders wir Deutsche uns hervorgetan. Denn wir sind überhaupt den Franzosen gegenüber die sorgsamsten Archivare aller fremden Eigenheiten und verlangen deshalb auch in der Kunst Treue der Zeit, des Orts, der Gebräuche, Kleider, Waffen usf.; ebensowenig fehlt es uns an Geduld, uns mit saurer Mühe durch Gelehrsamkeit in die Denk- und Anschauungsweise fremder Nationen und entlegener Jahrhunderte hineinzustudieren, um ihre Partikularitäten uns anzubequemen; und diese Vielseitigkeit und Allseitigkeit, die Geister der Nationen aufzufassen und zu verstehen, macht uns auch in der Kunst nicht nur gegen fremde Sonderbarkeiten tolerant, sondern sogar allzu peinlich in der Forderung genauester Richtigkeit solcher unwesentlichen Außendinge. Die Franzosen erscheinen zwar gleichfalls als vielgewandt und tätig, aber so höchstgebildete und praktische Menschen sie auch sein mögen, um so weniger Geduld haben sie für ein ruhiges und anerkennendes Auffassen. Zu urteilen ist bei ihnen immer das erste. Wir dagegen lassen besonders in fremden Kunstwerken jedes treue Gemälde gelten; ausländische Pflanzen, Gebilde, aus welchem Reiche der Natur es sei, Geräte aller Art und Gestalt, Hunde und Katzen, selbst ekelhafte Gegenstände sind uns genehm; und so wissen wir uns auch mit den fremdartigsten Anschauungsweisen, Opfern, Legenden der Heiligen und ihren vielen Absurditäten sowie mit anderweitigen abnormen Vorstellungen zu befreunden. Ebenso kann es uns in Darstellung der handelnden Personen als das wesentlichste erscheinen, sie in ihrem Sprechen, ihren Trachten usf. um ihrer selbst willen, und wie sie wirklich ihrem Zeit- und Nationalcharakter nach für sich zu- und gegeneinander gewesen sind, auftreten zu lassen.
In neuerer Zeit, besonders seit Friedrich von Schlegels Wirksamkeit, ist die Vorstellung aufgekommen, daß die Objektivität eines Kunstwerks durch eine solche Art der Treue begründet werde. Deshalb müsse sie den Hauptgesichtspunkt ausmachen, und auch unser subjektives Interesse habe sich vornehmlich auf die Freude an dieser Treue und deren Lebendigkeit zu beschränken. Wird eine solche Forderung aufgestellt, so ist darin ausgesprochen, daß wir kein Interesse höherer Art in Rücksicht auf die Wesentlichkeit des dargestellten Gehalts sowie kein näheres Interesse heutiger Bildung und Zwecke mitbringen dürften. In dieser Art sind denn auch in Deutschland, als man durch Herders Anregung allgemeiner wieder anfing, auf das Volkslied aufmerksam zu werden, allerlei Liederarten im Nationaltone von Völkern und Stämmen einfacher Bildung gedichtet worden - irokesische, neugriechische, lappländische, türkische, tatarische, mongolische usf. -, und man hat es für eine große Genialität gehalten, sich ganz in fremde Sitten und Volksanschauungen hineinzudenken und -zudichten. Wenn sich nun aber auch der Dichter selbst vollständig in dergleichen Fremdartigkeiten einarbeitet und hineinempfindet, so können sie doch für das Publikum, das sie genießen soll, nur immer etwas Äußerliches sein.
Überhaupt aber bleibt diese Ansicht, wenn sie einseitig festgehalten wird, bei dem ganz Formellen der historischen Richtigkeit und Treue stehen, indem sowohl von dem Inhalte und dessen substantiellem Gewicht als auch von der Bildung und dem Gehalte der gegenwärtigen Anschauung und des heutigen Gemüts abgesehen wird. Von dem einen jedoch ist ebensowenig als von dem anderen zu abstrahieren, sondern diese beiden Seiten fordern ihre gleiche Befriedigung und haben die dritte Forderung historischer Treue in ganz anderer Weise, als wir bisher sahen, mit sich in Übereinstimmung zu bringen. Dies führt uns zu der Betrachtung der wahren Objektivität und Subjektivität, denen das Kunstwerk Genüge zu leisten hat.
c) Das Nächste, was sich im allgemeinen über diesen Punkt sagen läßt, besteht darin, daß keine der soeben betrachteten Seiten sich auf Kosten der anderen einseitig und verletzend hervortun dürfe, daß aber die bloß historische Richtigkeit in äußerlichen Dingen des Lokals, der Sitten, Gebräuche, Institutionen den untergeordneten Teil des Kunstwerks ausmache, welcher dem Interesse eines wahrhaften und auch für die Gegenwart der Bildung unvergänglichen Gehalts weichen müsse. >>>
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