2. Die Situation
Der ideale Weltzustand, welchen die Kunst im Unterschiede der prosaischen Wirklichkeit darzustellen berufen ist, macht der bisherigen Betrachtung nach nur das geistige Dasein überhaupt und somit nur die Möglichkeit erst der individuellen Gestaltung, nicht aber diese Gestaltung selber aus. Was wir daher soeben vor uns hatten, war nur der allgemeine Grund und Boden, auf welchem die lebendigen Individuen der Kunst auftreten können. Er ist zwar mit Individualität befruchtet und beruht auf deren Selbständigkeit, aber als allgemeiner Zustand zeigt er noch nicht die tätige Bewegung der Individuen in ihrer lebendigen Wirksamkeit - wie der Tempel, den die Kunst auferbaut, noch nicht die individuelle Darstellung des Gottes selber ist, sondern nur den Keim zu derselben enthält. Deshalb haben wir jenen Weltzustand zunächst noch als das in sich Unbewegte anzusehen, als eine Harmonie der Mächte, die ihn regieren, und insofern als ein substantielles, gleichförmig geltendes Bestehen, das jedoch nicht etwa darf als ein sogenannter Stand der Unschuld aufgefaßt werden. Denn es ist der Zustand, in dessen Fülle und Macht der Sittlichkeit das Ungeheuer der Entzweiung nur noch schlummerte, weil sich für unsere Betrachtung erst die Seite seiner substantiellen Einheit hervorgekehrt hatte und daher auch die Individualität nur in ihrer allgemeinen Weise vorhanden war, in welcher sie sich, statt ihre Bestimmtheit geltend zu machen, spurlos und ohne wesentliche Störung wieder verläuft. Zur Individualität aber gehört wesentlich Bestimmtheit, und soll uns das Ideal als bestimmte Gestalt entgegentreten, so ist es notwendig, daß es nicht nur in seiner Allgemeinheit bleibe, sondern das Allgemeine in besonderer Weise äußere und demselben dadurch erst Dasein und Erscheinung gebe. Die Kunst in dieser Beziehung hat also nicht etwa nur einen allgemeinen Weltzustand zu schildern, sondern aus dieser unbestimmten Vorstellung zu den Bildern der bestimmten Charaktere und Handlungen fortzugehen.
Von seiten der Individuen aus ist deshalb der allgemeine Zustand wohl der für sie vorhandene Boden, der sich aber zur Spezialität der Zustände und mit dieser Besonderung zu Kollisionen und Verwicklungen aufschließt, welche die Veranlassungen für die Individuen werden, zu äußern, was sie sind, und sich als bestimmte Gestalt zu weisen. Von seiten des Weltzustandes dagegen erscheint dies Sichzeigen der Individuen zwar als Werden seiner Allgemeinheit zu einer lebendigen Besonderung und Einzelheit, zu einer Bestimmtheit aber, in welcher sich zugleich die allgemeinen Mächte als das Waltende erhalten. Denn das bestimmte Ideal hat, nach seiner wesentlichen Seite genommen, die ewigen weltbeherrschenden Mächte zu seinem substantiellen Gehalt. Die Weise der Existenz jedoch, welche in der Form bloßer Zuständlichkeit gewonnen werden kann, ist dieses Gehalts nicht würdig. Das Zuständliche nämlich hat teils die Gewohnheit zu seiner Form - die Gewohnheit aber entspricht nicht der geistigen selbstbewußten Natur jener tiefsten Interessen; teils war es die Zufälligkeit und Willkür der Individualität, durch deren Selbsttätigkeit wir eben diese Interessen sollten ins Leben treten sehen - die unwesentliche Zufälligkeit und Willkür aber ist wiederum der substantiellen Allgemeinheit, welche den Begriff des in sich Wahrhaftigen ausmacht, ebensowenig gemäß. Wir haben deshalb auf der einen Seite eine bestimmtere, auf der anderen eine würdigere Kunsterscheinung für den konkreten Gehalt des Ideals aufzusuchen.
Diese neue Gestaltung können die allgemeinen Mächte in ihrem Dasein nur dadurch erhalten, daß sie in ihrer wesentlichen Unterscheidung und Bewegung überhaupt, und näher dadurch, daß sie in ihrem Gegensatze gegeneinander erscheinen. In der Besonderheit nun, zu welcher das Allgemeine in dieser Weise übergeht, sind zwei Momente bemerklich zu machen: erstens die Substanz als ein Kreis der allgemeinen Mächte, durch deren Besonderung die Substanz in ihre selbständigen Teile zerlegt wird; zweitens die Individuen, welche als das betätigende Vollbringen dieser Mächte heraustreten und die individuelle Gestalt für dieselbe abgeben.
Der Unterschied aber und Gegensatz, in welche dadurch der zunächst in sich harmonische Weltzustand mit seinen Individuen gesetzt wird, ist, in Beziehung auf diesen Weltzustand betrachtet, das Hervortreiben des wesentlichen Gehalts, den er in sich trägt, während umgekehrt das substantielle Allgemeine, das in ihm liegt, zur Besonderheit und Einzelheit in der Weise fortgeht, daß dies Allgemeine sich zum Dasein bringt, indem es sich wohl den Schein der Zufälligkeit, Spaltung und Entzweiung gibt, diesen Schein aber eben dadurch wieder tilgt, daß es darin sich erscheinen läßt.
Das Auseinandertreten dieser Mächte und ihr Sichverwirklichen in Individuen kann aber ferner nur unter bestimmten Umständen und Zuständen geschehen, unter welchen und als welche die ganze Erscheinung ins Dasein hervorgeht oder welche das Erregende in betreff auf diese Verwirklichung ausmachen. Für sich selbst genommen, sind solche Umstände ohne Interesse und erhalten ihre Bedeutung erst in ihrem Verhältnis zum Menschen, durch dessen Selbstbewußtsein der Inhalt jener geistigen Mächte zur Erscheinung betätigt werden soll. Die äußeren Umstände sind deshalb wesentlich in diesem Verhältnis aufzufassen, indem sie Wichtigkeit nur durch das erlangen, was sie für den Geist sind, durch die Weise nämlich, in der sie von den Individuen ergriffen werden und damit die Veranlassung geben, das innere geistige Bedürfnis, die Zwecke, Gesinnungen, das bestimmte Wesen überhaupt individueller Gestaltungen zur Existenz zu bringen. Als diese nähere Veranlassung bilden die bestimmten Umstände und Zustände die Situation, welche die speziellere Voraussetzung für das eigentliche Sichäußern und Betätigen alles dessen ausmacht, was in dem allgemeinen Weltzustande zunächst noch unentwickelt verborgen liegt, weshalb wir der Betrachtung der eigentlichen Handlung die Feststellung des Begriffs der Situation vorausschicken müssen.
Die Situation im allgemeinen ist einerseits der Zustand überhaupt, zur Bestimmtheit partikularisiert, und in dieser Bestimmtheit andererseits zugleich das Anregende für die bestimmte Äußerung des Inhalts, welcher sich durch die künstlerische Darstellung ins Dasein herauszukehren hat. Vornehmlich von diesem letzteren Standpunkte aus bietet die Situation ein weites Feld der Betrachtung dar, indem es von jeher die wichtigste Seite der Kunst gewesen ist, interessante Situationen zu finden, d. h. solche, welche die tiefen und wichtigen Interessen und den wahren Gehalt des Geistes erscheinen machen. Für die verschiedenen Künste sind die Forderungen in dieser Beziehung verschieden; die Skulptur z. B. erweist sich in Rücksicht auf die innere Mannigfaltigkeit der Situationen beschränkt, Malerei und Musik schon weiter und freier, am unerschöpflichsten jedoch die Poesie.
Da wir nun aber hier noch nicht im Gebiete der besonderen Künste stehen, haben wir an dieser Stelle nur die allgemeinsten Gesichtspunkte herauszuheben und können dieselben zu folgendem Stufengange gliedern.
Erstens nämlich erhält die Situation, ehe sie sich zur Bestimmtheit in sich fortgebildet hat, noch die Form der Allgemeinheit und dadurch der Unbestimmtheit, so daß wir also zunächst nur die Situation der Situationslosigkeit gleichsam vor uns haben. Denn die Form der Unbestimmtheit ist selber nur eine Form einer anderen, der Bestimmtheit, gegenüber und erweist sich somit selber als eine Einseitigkeit und Bestimmtheit.
Aus dieser Allgemeinheit aber zweitens tritt die Situation zur Besonderung heraus und wird zur eigentlichen, zunächst jedoch harmlosen Bestimmtheit, die noch zu keinem Gegensatz und dessen notwendiger Lösung Anlaß gibt.
Drittens endlich macht die Entzweiung und deren Bestimmtheit das Wesen der Situation aus, welche dadurch zu einer Kollision wird, die zu Reaktionen führt und in dieser Rücksicht wie den Ausgangspunkt so auch den Übergang zur eigentlichen Handlung bildet.
Denn die Situation überhaupt ist die Mittelstufe zwischen dem allgemeinen, in sich unbewegten Weltzustande und der in sich zur Aktion und Reaktion aufgeschlossenen konkreten Handlung, weshalb sie auch den Charakter sowohl des einen als des anderen Extrems in sich darzustellen und uns von dem einen her zu dem anderen hinüberzuleiten hat.
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