Zweites Kapitel: Das Ideal der klassischen Kunstform
Was das eigentliche Wesen des Ideals sei, haben wir bereits bei der allgemeinen Betrachtung des Kunstschönen gesehen. Hier müssen wir es nun in dem speziellen Sinne des klassischen Ideals nehmen, dessen Begriff sich uns gleichfalls schon mit dem Begriffe der klassischen Kunstform überhaupt ergeben hat. Denn das Ideal, von dem jetzt zu reden ist, besteht nur darin, daß die klassische Kunst das, was ihren innersten Begriff ausmacht, wirklich erreicht und herausstellt. Als Inhalt ergreift sie auf diesem Standpunkt das Geistige, insofern es die Natur und deren Mächte in sein eigenes Bereich hineinzieht und sich somit nicht als bloße Innerlichkeit und Herrschaft über die Natur zur Darstellung bringt; zur Form aber nimmt sie die menschliche Gestalt, Tat und Handlung, durch welche das Geistige in vollständiger Freiheit klar hindurchscheint und in das Sinnliche der Gestalt nicht etwa als in eine nur symbolisch andeutende Äußerlichkeit, sondern als in ein Dasein sich hineinlebt, das die angemessene Existenz des Geistes ist.
Die bestimmtere Gliederung nun dieses Kapitels läßt sich folgendermaßen feststellen:
Zuerst haben wir die allgemeine Natur des klassischen Ideals zu betrachten, das zu seinem Inhalte wie zu seiner Form das Menschliche hat und beide Seiten zu dem vollendetesten Entsprechen ineinanderarbeitet.
Zweitens aber, da sich hier das Menschliche ganz in die leibliche Gestalt und äußere Erscheinung versenkt, wird es zur bestimmten äußeren Gestalt, welcher nur ein bestimmter Gehalt gemäß ist. Indem wir dadurch das Ideal zugleich als Besonderheit vor uns haben, ergibt sich uns ein Kreis von besonderen Göttern und Mächten des menschlichen Daseins.
Drittens bleibt die Besonderheit nicht bei der Abstraktion nur einer Bestimmtheit stehen, deren wesentlicher Charakter den ganzen Inhalt und das einseitige Prinzip für die Darstellung ausmachen würde, sondern ist ebensosehr eine Totalität in sich und deren individuelle Einheit und Übereinstimmung. Ohne diese Erfüllung wäre die Besonderheit kahl und leer, und es würde ihr die Lebendigkeit abgehen, welche dem Ideal in keiner Beziehung fehlen kann.
Nach diesen drei Seiten der Allgemeinheit, Besonderheit und individuellen Einzelheit haben wir jetzt das Ideal der klassischen Kunst näher durchzugehen.
1. Das Ideal der klassischen Kunst überhaupt
Die Fragen nach dem Ursprung der griechischen Götter, insofern sie den eigentlichen Mittelpunkt für die ideale Darstellung abgeben, haben wir schon oben berührt und gesehen, daß sie der von der Kunst umgebildeten Tradition angehören. Diese Umgestaltung nun konnte nur durch die zwiefache Herabsetzung, auf der einen Seite der allgemeinen Naturmächte und deren Personifikation, auf der anderen des Tierischen und der symbolischen Bedeutung und Gestalt desselben, vor sich gehen, um dadurch als den wahren Gehalt das Geistige und als die wahre Form die menschliche Erscheinungsweise zu gewinnen.
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