<<<Das romantische Epos [Das romantische Epos und Studium der alten Litertur]
γ) In einer dritten Hauptgruppe nun, von der ich noch reden will, eröffnet das reichhaltige und nachwirkende Studium der alten Literatur den Ausgangspunkt für den reineren Kunstgeschmack einer neuen Bildung, in deren Lernen, Aneignen und Verschmelzen sich jedoch häufig jenes ursprüngliche Schaffen vermissen läßt, das wir bei den Indern, Arabern sowie bei Homer und im Mittelalter bewundern dürfen. Bei der vielseitigen Entwicklung, in welcher von dieser Zeit der wiederauflebenden Wissenschaften und ihres Einflusses auf die Nationalliteraturen an die Wirklichkeit sich in Religion, Staatszuständen, Sitten, sozialen Verhältnissen usw. fortbildet, ergreift nun auch die epische Poesie sowohl den verschiedenartigsten Inhalt als auch die mannigfaltigsten Formen, deren geschichtlichen Verlauf ich nur kurz auf die wesentlichsten Charakterzüge zurückführen kann. Es lassen sich in dieser Rücksicht folgende Hauptunterschiede herausheben.
αα) Erstens ist es noch das Mittelalter, welches wie bisher die Stoffe für das Epos liefert, obschon dieselben in einem neuen, von der Bildung nach den Alten durchdrungenen Geiste aufgefaßt und dargestellt werden. Hier sind es vornehmlich zwei Richtungen, in welchen die epische Dichtkunst sich tätig erweist.
Auf der einen Seite nämlich führt das vorschreitende Bewußtsein der Zeit notwendig dahin, das Willkürliche in den mittelalterlichen Abenteuerlichkeiten, das Phantastische und Übertriebene des Rittertums, das Formelle in der Selbständigkeit und subjektiven Vereinzelung der Helden innerhalb einer sich schon zu größerem Reichtum nationaler Zustände und Interessen aufschließenden Wirklichkeit ins Lächerliche zu ziehen und somit diese ganze Welt, wie sehr das Echo in ihr auch mit Ernst und Vorliebe hervorgehoben bleibt, vom Standpunkte der Komik aus zur Anschauung zu bringen. Als die Gipfelpunkte dieser geistreichen Auffassung des ganzen Ritterwesens habe ich früher bereits (Bd. II, S. 217 f.) Ariost und Cervantes hingestellt. Ich will deshalb jetzt nur auf die glänzende Gewandtheit, den Reiz und Witz, die Lieblichkeit und kernige Naivität aufmerksam machen, mit welcher Ariosto, dessen Gedicht sich noch mitten in den poetischen Zwecken des Mittelalters bewegt, nur versteckter das Phantastische sich durch närrische Unglaublichkeiten scherzhaft in sich selber auflösen läßt, während der tiefere Roman des Cervantes das Rittertum schon als eine Vergangenheit hinter sich hat, die daher nur als isolierte Einbildung und phantastische Verrücktheit in die reale Prosa und Gegenwart des Lebens hereintreten kann, doch ihren großen und edlen Seiten nach nun auch ebensosehr wieder über das zum Teil Täppische, Alberne, zum Teil Gesinnungslose und Untergeordnete dieser prosaischen Wirklichkeit hinausragt und die Mängel derselben lebendig vor Augen führt.
Als des gleich berühmt gewordenen Repräsentanten einer zweiten Richtung will ich nur Tassos erwähnen. In seinem Befreiten Jerusalem sehen wir im Unterschiede des Ariost den großen gemeinsamen Zweck der christlichen Ritterschaft, die Befreiung des Heiligen Grabes, diese erobernde Wallfahrt der Kreuzzüge ohne alle und jede Zutat komischer Laune zum Mittelpunkte erwählt und nach dem Vorbilde des Homer und Vergil mit Begeisterung, Fleiß und Studium ein Kunstepos zustande gebracht, das sich jenen Vorbildern selber sollte an die Seite stellen dürfen. Und allerdings treffen wir hier außer einem wirklichen, zum Teil auch nationalen heiligen Interesse eine Art der Einheit, Entfaltung und Abrundung des Ganzen an, wie wir sie oben gefordert haben; ebenso einen schmeichelnden Wohlklang der Stanzen, deren melodische Worte noch jetzt im Munde des Volkes leben; dennoch aber fehlt es gerade diesem Gedicht am meisten an der Ursprünglichkeit, welche es zum Grundbuche einer ganzen Nation machen könnte. Statt daß nämlich, wie es bei Homer der Fall ist, das Werk, als eigentliches Epos, das Wort für alles findet, was die Nation in ihren Taten ist, und dies Wort in unmittelbarer Einfachheit ein für allemal ausspricht, erscheint dieses Epos als ein Poem, d. h. als eine poetisch gemachte Begebenheit, und vergnügt und befriedigt sich vornehmlich an der Kunstbildung der schönen, teils lyrischen, teils episch schildernden Sprache und Form überhaupt. Wie sehr deshalb Tasso sich auch in betreff auf die Anordnung des epischen Stoffes Homer zum Muster genommen hat, so ist es für den ganzen Geist der Konzeption und Darstellung doch hauptsächlich das Einwirken Vergils, das wir nicht eben zum Vorteil des Gedichtes hauptsächlich wiedererkennen.
An die genannten großen Epopöen, welche eine klassische Bildung zu ihrer Grundlage haben, schließt sich nun drittens die Lusiaden des Camões. Mit diesem dem Stoffe nach ganz nationalen Werk sind wir, indem es die kühnen Seetaten der Portugiesen besingt, dem eigentlichen Mittelalter schon entrückt und zu Interessen hinübergeleitet, welche eine neue Ära verkündigen. Doch auch hier macht sich, dem Feuer des Patriotismus sowie der meist aus eigener Anschauung und Lebenserfahrung geschöpften Lebendigkeit der Schilderungen und episch abgerundeten Einheit unerachtet, der Zwiespalt des nationalen Gegenstandes und einer zum Teil den Alten, zum Teil den Italienern entlehnten Kunstbildung fühlbar, welcher den Eindruck epischer Ursprünglichkeit raubt.
ββ) Die wesentlich neuen Erscheinungen aber in dem religiösen Glauben und der Wirklichkeit des modernen Lebens finden ihren Ursprung in dem Prinzipe der Reformation, obschon die ganze Richtung, welche aus dieser umgewandelten Lebensanschauung hervorgeht, mehr der Lyrik und dramatischen Poesie günstig ist als dem eigentlichen Epos. Doch feiert die religiöse Kunstepopöe auch in diesem Kreise noch eine Nachblüte, hauptsächlich in Miltons Verlorenem Paradiese und Klopstocks Messias. Was Milton angeht, so steht auch er in einer durch Studium der Alten erlangten Bildung und korrekten Eleganz des Ausdrucks für sein Zeitalter zwar als preiswürdiges Muster da, an Tiefe aber des Gehalts, an Energie, origineller Erfindung und Ausführung und besonders an epischer Objektivität ist er dem Dante schlechthin nachzusetzen. Denn einerseits nimmt der Konflikt und die Katastrophe des Verlorenen Paradieses eine Wendung gegen den dramatischen Charakter hin, andererseits, wie ich schon oben beiläufig bemerkte, macht der lyrische Aufschwung und die moralisch-didaktische Tendenz einen eigentümlichen Grundzug aus, der von dem Gegenstande seiner ursprünglichen Gestalt nach weit genug abliegt. - Von einem ähnlichen Zwiespalte des Stoffs und der Zeitbildung, welche denselben episch widerspiegelt, habe ich in bezug auf Klopstock schon gesprochen, bei welchem dann außerdem noch das stete Bestreben sichtlich wird, durch eine geschraubte Rhetorik der Erhabenheit seinem Gegenstande auch für den Leser dieselbe Anerkennung der begeisternden Würde und Heiligkeit zu verschaffen, zu welcher der Dichter selbst sich heraufgehoben hatte. - Ganz nach einer anderen Seite hin geht es in gewisser Rücksicht auch in Voltaires Henriade nicht wesentlich anders zu. Wenigstens bleibt auch hier die Poesie um so mehr etwas Gemachtes, als sich der Stoff, wie ich schon sagte, für das ursprüngliche Epos nicht geeignet zeigt.
γγ) Suchen wir nun in neuester Zeit nach wahrhaft epischen Darstellungen, so haben wir uns nach einem anderen Kreise als dem der eigentlichen Epopöe umzusehen. Denn der ganze heutige Weltzustand hat eine Gestalt angenommen, welche in ihrer prosaischen Ordnung sich schnurstracks den Anforderungen entgegenstellt, welche wir für das echte Epos unerläßlich fanden, während die Umwälzungen, denen die wirklichen Verhältnisse der Staaten und Völker unterworfen gewesen sind, noch zu sehr als wirkliche Erlebnisse in der Erinnerung festhaften, um schon die epische Kunstform vertragen zu können. Die epische Poesie hat sich deshalb aus den großen Völkerereignissen in die Beschränktheit privater häuslicher Zustände auf dem Lande und in der kleinen Stadt geflüchtet, um hier die Stoffe aufzufinden, welche sich einer epischen Darstellung fügen könnten. Dadurch ist denn besonders bei uns Deutschen das Epos idyllisch geworden, nachdem sich die eigentliche Idylle in ihrer süßlichen Sentimentalität und Verwässerung zugrunde gerichtet hat. Als naheliegendes Beispiel eines idyllischen Epos will ich nur an die Luise von Voss sowie vor allem an Goethes Meisterwerk, Hermann und Dorothea, erinnern. Hier wird uns zwar der Blick auf den Hintergrund der in unserer Zeit größten Weltbegebenheit eröffnet, an welche sich dann die Zustände des Wirtes und seiner Familie, des Pastors und Apothekers unmittelbar anknüpfen, so daß wir, da das Landstädtchen nicht in seinen politischen Verhältnissen erscheint, einen unberechtigten Sprung finden und die Vermittlung des Zusammenhanges vermissen können; doch gerade durch das Weglassen dieses Mittelgliedes bewahrt das Ganze seinen eigentümlichen Charakter. Denn meisterhaft hat Goethe die Revolution, obschon er sie zur Erweiterung des Gedichts aufs glücklichste zu benutzen wußte, ganz in die Ferne zurückgestellt und nur solche Zustände derselben in die Handlung eingeflochten, welche sich in ihrer einfachen Menschlichkeit an jene häuslichen und städtischen Verhältnisse und Situationen durchaus zwanglos anschließen. Was aber die Hauptsache ist, Goethe hat für dieses Werk mitten aus der modernen Wirklichkeit Züge, Schilderungen, Zustände, Verwicklungen herauszufinden und darzustellen verstanden, die in ihrem Gebiete das wieder lebendig machen, was zum unvergänglichsten Reiz in den ursprünglich menschlichen Verhältnissen der Odyssee und der patriarchalischen Gemälde des Alten Testamentes gehört.
Für die sonstigen Kreise des gegenwärtigen nationalen und sozialen Lebens endlich hat sich im Felde der epischen Poesie ein unbeschränkter Raum für den Roman, die Erzählung und Novelle aufgetan, deren breite Entwicklungsgeschichte von ihrem Ursprunge ab bis in unsere Gegenwart hinein ich hier jedoch selbst in den allgemeinsten Umrissen nicht weiter zu verfolgen imstande bin.
|